Finnen von Sinnen - Finnen von Sinnen
lernen könne - was wahrlich schön gesagt war. Der blau-weiße Emailleteller ist uns bis heute heilig.
Es droht, ein falsches Bild zu entstehen. Denn der erste, allererste Eindruck war doch ein ganz anderer.
Zarter. Weicher. Zerbrechlicher.
Es begab sich an einem Montag im späten Mai, der Vormittagsunterricht war gerade zu Ende, da bat mich Francisco noch kurz in sein Drei-Quadratmeter-Direktorat am Ende des Kachelflures. Es gebe da nämlich, sagte er leise und verschloss die Tür, diese Finnin, ich hätte gewiss schon von ihr gehört, muy alta und muy simpática , die habe heute, was er eigentlich gar nicht erzählen dürfe, einen Brief aus ihrer Heimat erhalten. Nun sitze sie dort unten auf den Stufen des Schulpatios und weine bitterlich. Mit ihrem Spanisch sei es aber noch nicht weit, und sein Englisch, na ja. Ob ich nicht kurz nachfragen könne, er mache sich Sorgen, vor allem wegen der Sache am vergangenen Samstag, ich sei ja selbst dabei gewesen. Bei diesen Skandinavierinnen wisse man nie.
Den vorangegangen Samstag, sollte ich erklären, hatte eine liebeskranke dänische Abiturientin beim Tagesausflug nach Ronda versucht, sich mit einem Sprung in die Tiefe das Leben zu nehmen, und zwar genau an der Stelle, wo der tuberkulosekranke deutsche Dichter Rainer Maria Rilke einst in einer Luft »von wunderbarer Klarheit und Frische« zu manch gelungenem Vers inspiriert worden war und die Faschisten des Städtchens gut drei Jahrzehnte später ihre kommunistischen Nachbarn
Mann für Mann in den Abgrund gestoßen hatten. Mehrere hundert Meter fällt der Felsen dort senkecht ins Bodenlose. Ein schauriger Anblick.
Ganz anders als der Blick durch das Zimmer des Direktorats. Rötliche Haare schimmern in der Mittagssonne, frische Sommersprossen auf freien Schultern. Es waren nur wenige Stufen.
» Hola . Everything okay?«
»Yes, o yes. Very much so, thank you. It’s just that, you know, we won. We won! For the first time ever!«, schluchzte sie lächelnd und überreichte mir einen Zeitungsausschnitt, auf dem ein älterer Herr mit Kassengestell und Seitenscheitel zu sehen war, der, wohl auf einem Balkon oder einer Empore, zwei vollkommen verschwitzte, wesentlich jüngere Männer innig umarmte.
»Looks like a lot of fun.«
»Ooohhh, I just wish I had been there.«
»Well, congratulations then! Hope we see each other again.«
»Thank you.«
Zurück im Büro erklärte ich dem jefe de estudios , dass Finnland vor zwei Wochen die Eishockeyweltmeisterschaft gewonnnen habe.
»Und deshalb weint sie?«
»Sie hat es ja erst jetzt durch den Brief erfahren. Das verstehst du nicht, für die ist das was ganz Großes, so wie Fußball hier, mindestens.«
»Unsere Nationalmannschaft hat noch nie etwas gewonnen.«
»Das weiß ich. Die Finnen ja auch nicht. Bis jetzt. Bist du jetzt beruhigt?«
»Mehr oder minder«, stöhnte Francisco, öffnete das Fenster und lugte mit seiner Nickelbrille noch einmal nach der schluchzenden Finnin. »Aber Wolfi, eh, mach keinen Unsinn.«
»Was meinst du?«
»Du weißt schon ganz genau, was ich meine. Ist sehr kalt da, besonders im Winter.«
»Du machst dir zu viele Sorgen.«
»Jajajajaja. Wir sehen uns dann heute beim Flamencoabend?«
»Klar.«
Ich vermag es selbst kaum zu glauben, aber damals, im Frühjahr 1995, gab es wirklich noch zivilisierte Menschen - zum Beispiel uns beide -, die zwei Wochen auf eine innig ersehnte Nachricht warten mussten. Es war eine Welt ohne Wireless, ohne Internet-Cafés, ohne Google oder stabilen Handyempfang, zumindest in unserem andalusischen Dorf am Ende Europas mit seinen drei öffentlichen Telefonzellen, vor denen sich jeden Abend lange Schlangen von Jugendlichen bildeten. Eine Welt, in der es noch eine Fremde gab, in die du aufbrechen konntest, ohne zu wissen, was dich erwartet.
Nicht einmal eine E-Mail-Adresse besaß ich damals. Die bekam ich erst sieben Monate später, automatisch zugewiesen von meiner finnischen Gastuniversität, samt
User-Account, Passwort und elektronisch lesbarem Studentenausweis, mit dem ich in der Mensa laktosefrei essen, im Computerraum unbegrenzt ausdrucken, im Fitnessraum auch nachts Sport treiben und in der Bibliothek kostenlos Bücher aus ganz Skandinavien anfordern konnte.
Während meine Heidelberger Kommilitonen also aus datenschutzrechtlichen Ängsten für mehrere Tage das gerade im Entstehen begriffene Rechenzentrum in den Kellerräumen der Altstadtbibliothek besetzten, saß ich in Turku plötzlich
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