Finnischer Tango - Roman
einen Schrei aus, aber das Auto fuhr weiter. Katja schloss die Augen und presste den Kopf auf die Knie, ihr Schrei erstickte im Wollstoff ihres Mantels. Dann verstummte das Motorengeräusch. Sie hob den Kopf, erblickte ein paar Meter vor sich das Auto und stand vorsichtig auf. Nun entdeckte sie auch ihren Bruder, Juri schaute sich am Zeitungskiosk beunruhigt um. Katja rief seinen Namen, aber durch den Verkehrslärm drang ihr Ruf nicht bis zu ihm. Immer mehr Menschen blieben vor ihr stehen, erst war nur noch Juris Mantel zu erkennen, dann verschwand ihr Bruder völlig aus ihrem Blickfeld.
Vier Männer in schwarzen Anzügen bildeten eine Mauer auf beiden Seiten des Mercedes, der auf den Fußweg gefahren war. Die Passanten drängten sich in dichten Trauben vor den Sicherheitsleuten, und zwischen dem Wagen und der Tür des Warenhauses entstand ein Spalier. Niemand erhob seine Stimme, die Petersburger wussten, wann es besser war, den Mund zu halten.
Die Türen des Warenhauses Gostiny Dwor öffneten sich, und zwei Sicherheitsleute betraten den Fußweg des Newski-Prospekts, gefolgt von einem älteren Herrn, der die traditionelle hohe Pelzmütze der Tschetschenen, die Papacha , und einen silbergrauen Zweireiher trug. Der Mann mit der Mütze wurde rasch zu dem gepanzerten Mercedes geführt, der sofort startete.
In dem Moment erblickte Katja ihren Bruder, der am Zeitungskiosk lehnte. Sie rannte los durch die Gasse, die von den Männern in den schwarzen Anzügen gebildet wurde, und gelangte im Fahrwasser des Autos, das vom Fußweg auf die Straße rollte, zu ihrem Bruder. Auch Juri schien froh zusein, er fürchtete wohl, vom Vater Prügel zu bekommen, wenn seine Schwester verlorenginge.
Katja lächelte ihrem Bruder zu, dann hörten sie ein Rauschen. Es kam aus der Luft, sie schauten zum Himmel hinauf und sahen einen Funkenstrahl …
Der explodierende Mercedes verwandelte den Newski-Prospekt in ein Feuermeer, und die Zeitungsseiten, die durch die Luft flogen und auf dem Asphalt landeten, saugten sich voll mit Blut.
Wassili Arbamow hörte nicht, wie die von seinen Leuten abgefeuerte Rakete explodierte, obwohl sein Belosselski-Beloserski-Palast nur einen halben Kilometer vom Warenhaus Gostiny Dwor entfernt lag. Die englischsprachige Fußballreportage aus der Lautsprecheranlage, die an den Fernseher mit einem Fünfzig-Zoll-Flachbildschirm angeschlossen war, dröhnte laut und übertönte auch die wenigen Geräusche, die durch die massiven Steinwände des Palastes und die Panzerglasfenster der zum Büro umgebauten Bibliothek in der ersten Etage hereindrangen. Auf den Tribünen des Stadions der Tottenham Hotspurs kochte es, und Arbamow, dem die Mannschaft gehörte, ärgerte sich, dass er in Petersburg sein musste, während die Jungs an der White Hart Lane spielten.
Wayne Rooney umspielte die Verteidiger der Hotspurs wie Bojen, schoss mit Effet und erhöhte die Führung von Manchester United auf 2:0. Arbamow fuhr sich durch die kurzen blonden Haare und fluchte laut. Die Saison wurde zu einem Alptraum, seine Mannschaft saß in der Nähe der Abstiegsplätze fest. Dabei hatte er doch im letzten Sommer für die Aktienmehrheit des Unternehmens Tottenham Hotspur plc. einhundertsechzig Millionen Pfund bezahlt. Vor Saisonbeginn hatte alles glänzend ausgesehen, auf dem Papier: Die Spieler, der Trainer, der Manager, die ganze Organisation.
»Vot bumaga bumaga, a praktika praktika«, murmelte Arbamow. Die alten Leute hatten schon gewusst, wovon sie sprachen: Papier ist geduldig – und die Praxis ist etwas ganz anderes. Zuweilen schien das Leben seinen eigenen Willen zu haben, der mit Macht die Pläne selbst des stärksten Mannes ruinieren konnte. Er bemerkte, dass ihn eine depressive Stimmung überkam, rasch stand er auf, schaltete den Fernseher aus, und kurz darauf strömte aus den Lautsprechern Entspannungsmusik von Sonosync im Rhythmus eines ruhigen Herzschlags. Er betrachtete die Ornamente des Kamins aus Carrara-Marmor, die Puttenreliefs und den Spiegel mit dem Goldrahmen über dem Kamin und überlegte, ob er es schaffen könnte, Feuer im Kamin zu machen.
In den letzten Jahren hatte es wahrhaftig schon genug Rückschläge gegeben. Dank Putin. Der Präsident hatte den größten Teil sowohl seiner tatsächlichen als auch der eingebildeten Konkurrenten vor den letzten Präsidentenwahlen eliminiert. Arbamow war immerhin noch klug genug gewesen, sich rechtzeitig auf Putins Seite zu stellen und freiwillig auf seine Fluggesellschaft und
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