Finnisches Blut
die Situation zu regeln, so bedenkenlos vertraute. Er sagte, er sei sicher, daß die Polizei oder die Aufklärungsabteilung sein Ferienhaus überwachte. Höchstwahrscheinlich würden auch die Ferienwohnungen seiner Verwandten und nächsten Freunde observiert. Andere mögliche Verstecke fielen ihm nicht ein. Auf die Insel, auf der Nelli war, würde er keinesfalls gehen, fügte er resolut hinzu, weil er fürchtete, daß er das Mädchen damit in Gefahr brachte.
|158| Ohne viele Worte forderte Pirkko Jalava ihn auf, anschließend in ihre Wohnung zu gehen. Er sei in Gefahr, solange die Öffentlichkeit noch nichts von dem Fall wußte, bis dahin wäre er dort in Sicherheit. Sie holte ihre Wohnungsschlüssel aus der abgenutzten Poppana-Handtasche und schärfte Ratamo ein, er dürfe niemandem die Tür öffnen und sich nur melden, wenn das Handy klingelte. Falls sie Ratamo bitten würde, die Wohnung zu verlassen, sollte er die kugelsichere Weste anziehen, die im obersten Fach des linken Spiegelschranks im Schlafzimmer lag. Sie sei ein Souvenir von einer kriminellen Organisation aus Moskau, über die sie vor längerer Zeit einen Artikel geschrieben hatte.
Bei dem Gedanken an die kugelsichere Weste im Schlafzimmer mußte Ratamo grinsen. Unwillkürlich kamen ihm die Spiele von Sadomasochisten in den Sinn.
Pirkko Jalava holte aus einer Reisetasche ein altes Nordisk Mobil Telefon der 450er-Serie. Journalisten verwendeten es, wenn sie in abgelegenen Gegenden oder auf den Schären unterwegs waren, wo sich das GSM-Netz als zu schwach erwies. Jalava fand es genauso praktisch wie einen Schleudersitz im Hubschrauber, aber es war das einzige freie Telefon in der Redaktion gewesen. Auf der Rückseite des Handys sah Ratamo einen Aufkleber, auf den die Nummer des Telefons und ihre Nummer in der Redaktion gedruckt waren. Sie reichte Ratamo auch die abgenutzte Tasche mit ein paar Sachen, um die er sie gebeten hatte.
Pirkko Jalava gab Ratamo die Hand und verließ die Gaststätte. Ratamo schaute ihr nach. Er überlegte, an wen sie ihn erinnerte. Seine Jugendfreundin Kitti war von ihrem Wesen her genauso stark gewesen, und Liisa wirkte auf die gleiche Weise natürlich. Ratamo fragte sich, ob die Frauen irgendeinen |159| Charakterzug gemeinsam hatten, oder lag es einfach nur am Bier, daß Pirkko Jalava so anziehend wirkte.
Wenig später stand er auf und bezahlte die Rechnung am Bartresen. In der Männertoilette zog er das blaue Hemd und den dünnen hellen Sommermantel an, die Pirkko ihm mitgebracht hatte. Er steckte das Handy in die alte Tasche, schwenkte sie über die Schulter und verließ das Stockmann-Warenhaus.
|160| 28
An der übernächsten Straßenkreuzung heulte ein kleiner Junge herzzerreißend. Sein Eis war ihm heruntergefallen, die Mutter streichelte ihn, aber das konnte ihn anscheinend auch nicht trösten.
Ratamo hastete an dem Jungen vorbei – und sehnte sich nach seiner Sonnenbrille. Es war so heiß, daß er den Mantel wieder auszog und um die Hüfte band. Von der Wohnung Jalavas aus würde er Marketta anrufen.
An der Kreuzung von Erottajankatu und Yrjönkatu, am Kino »Diana«, quietschten plötzlich Bremsen, ein schwarzer Mercedes Benz mit Diplomatenschild hielt direkt vor ihm, und zwei Männer in dunklen Anzügen stiegen aus. Bevor er begreifen konnte, was mit ihm geschah, hatten sie ihn unter den Achseln gepackt und zu dem Mercedes geführt. Sie öffneten die linke hintere Tür und stießen ihn auf den Rücksitz. Ein großgewachsener, breitschultriger Mann mit albinoweißem Haar folgte ihm durch dieselbe Tür ins Auto. Der jüngere, dunkelhaarige Mann ging um den Wagen herum und setzte sich auf seine andere Seite, die Tür war noch gar nicht richtig zu, da ruckte das Auto schon an und beschleunigte enorm.
Ratamo saß erstarrt da wie ein Jagdhund, der die Beute erblickt hat. Er wollte rufen und schreien, bekam aber kein Wort heraus. Was mochte es für ein Gefühl sein, wenn die Kugel in den Körper eindrang? Hätte er dann noch Zeit, Schmerz zu |161| spüren und etwas zu denken, wenn man ihm in den Kopf schoß wie Kaisa? Einmal war er beim Eishockey mit solcher Wucht an die Bande geprallt, daß er geglaubt hatte, er sei gelähmt. Damals hatte er sich selbst ganz ruhig beobachtet wie ein Außenstehender. Wäre er imstande, dem Tod genauso gelassen zu begegnen? Ratamo atmete tief durch und beruhigte sich. Er nahm sich vor, um sein Leben zu kämpfen, obwohl der Gegner übermächtig schien. Die Männer wußten ganz genau,
Weitere Kostenlose Bücher