Finnisches Blut
am späten Abend fast verlassen. Nur in der Nähe der Restaurants und der Fastfood-Buden sah man noch Leute. Kebab-Duft stieg Wrede in die Nase, als er am Wagen eines Straßenhändlers vorbeiging. Die prächtig dekorierten Schaufenster Dutzender kleiner Geschäfte quollen von Waren über. Alle großen Warenhausketten waren vertreten: BHS, Debenham’s, John Lewis, DH Evans, Selfridge’s, Marks & Spencer … Wrede blieb nur einmal stehen, als er ein französisches Deba-Messer von Sabatier im Angebot entdeckte.
Sechs Minuten nach zehn betrat Wrede dieselbe Telefonzelle, von der er die Überwachungszentrale schon einmal angerufen hatte. Er steckte wieder den Mischer auf die Sprechmuschel.
Wrede nannte dem Diensthabenden seine Kennung und den |240| Code für den Freitag, der in Finnland wegen des Zeitunterschieds von zwei Stunden schon begonnen hatte. In der Leitung war zunächst nur das vertraute Knacken zu hören, aber Wrede wußte, daß sich nur einen Moment später Ketonen melden würde.
»Hier Jussi. Was ist los?«
»Möglicherweise sehr viel. Ich habe drei Briefe aus dem Koffer von Vairialas Agenten filmen können, die alle denselben Inhalt, aber eine andere Adresse haben. Soll ich einen vorlesen?«
»Leg los.«
Wrede setzte das Lesegerät wie ein Monokel in seine linke Augenhöhle und las vom Mikrofilm einen der Briefe vor.
In der Leitung herrschte für einen Augenblick totale Stille.
»Hattest du gesagt, daß sich die Briefe im Koffer des Agenten befinden, den Vairiala geschickt hat?«
»Ja. Im Koffer deines Namensvetters Jussi Rautio.«
»Sind sie schon überbracht worden?«
»Noch nicht. Rautio ist noch in seinem Zimmer. An der Tür habe ich eine Sonde angebracht.«
»Lies die Adressen vor«, sagte Ketonen, und Wrede tat, wie ihm geheißen.
Eine Weile hörte man nur, wie Ketonen seine Zigarette paffte. »Folge Rautio jetzt unter allen Umständen. Wenn es sich nicht um irgendeinen krankhaften Scherz oder eine Übung handelt, dann führt Vairiala alle an der Nase herum und treibt ein verdammt gefährliches Spiel. Der Mann bietet ja eine Massenvernichtungswaffe zum Kauf an.« Ketonen überlegte wieder eine Weile, bevor er fortfuhr. »Wir sind gezwungen zu warten und zu sehen, ob die Briefe überbracht werden. Wir werden die Angelegenheit hier ab jetzt als Fall Rot behandeln. Ruf mich über die Zentrale sofort an, wenn irgend etwas passiert. |241| Eher verlasse ich das Büro nicht. Und faxe die Briefe an die Zentrale.« Ketonens Stimme hörte man an, daß er mit Eifer bei der Sache war. Die lange Zeit der Untätigkeit war endlich vorbei.
Ketonen beschloß, den Fahrstuhl nicht zu benutzen, und stieg die Treppen hinauf. So hatte er wenigstens etwas Bewegung. Die Etagen unterschieden sich durch die verschiedenen hellen Farbtöne: bläulich, rötlich, grünlich, gelblich. Er kannte die schönen Wandmalereien schon so gut, daß er sie nicht mehr beachtete.
Für Ketonen war es ungewohnt, daß Musti ihn nicht an der Tür empfing, als er sein Arbeitszimmer betrat. Sie war von dem nächtlichen Spaziergang völlig erschöpft gewesen. Er hingegen war gern ins Büro gekommen. Endlich passierte etwas, zu Hause starrte er nur in die Röhre. In der letzten Zeit war das Gefühl der Einsamkeit wieder erdrückend gewesen. Er hatte in seinem Leben viele falsche Entscheidungen getroffen, aber nur eine schmerzte immer noch: Als sich herausgestellt hatte, daß er und Hilkka niemals Kinder bekommen würden, war er gegen eine Adoption gewesen. Damals wäre er nie auf den Gedanken gekommen, daß er vor seinem sechzigsten Lebensjahr Witwer werden könnte.
|242| 42
»Ratamo. Ratamo, wach auf.«
Arto Ratamo schreckte aus dem Schlaf hoch und knallte mit dem Hinterkopf auf den Emaillerand der Badewanne. Er verzog das Gesicht zu einem Grinsen und rieb sich das Genick. Es dauerte einen Augenblick, bis er begriff, wo er war, und bemerkte, daß Pirkko Jalava vor ihm stand. »Entschuldige. Anscheinend war ich eingeschlafen«, stammelte er.
»Wann bist du in die Wanne gestiegen? Es ist gleich um eins. Du wirst ja so trocken wie ein Zwieback. Komm raus, hier ist ein Handtuch.« Jalava ging in den Flur, bevor Ratamo aus der Wanne stieg.
Ratamo trocknete sich ab und band sich das Handtuch um die Hüften. Dann nahm er den alten Priem, der unter seiner Oberlippe klebte, warf ihn in den Mülleimer und machte sich seine goldene Uhr um, eine Patek Philippe. Die hatte er von seinem Vater nach dem Tod der Mutter erhalten. Er fragte die
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