Finnisches Blut
kamen. Angeblich mußte auch er mit irgendeiner Aufgabe beschäftigt sein, während seine Frau ihre minimalistischen Gourmet-Portionen zubereitete. |227| Und dieses Amt brachte auch Vorteile mit sich. Er hatte für einen Augenblick Ruhe vor den Gästen, und, was am wichtigsten war, er durfte mehr trinken. Der Ärger über Kaisas Bekannte und sein Alkoholspiegel verhielten sich zueinander umgekehrt proportional.
Ratamo steckte sich einen Priem unter die Oberlippe und beschloß, die Spuren dieses schrecklichen Tages wegzuspülen. Im Spiegel des Badezimmers starrte ihn ein Mann an, der ziemlich heruntergekommen aussah. Die Bartstoppeln wucherten, die Haare standen zu Berge, und die Augen waren gerötet wie bei einem korsischen Räuberhauptmann.
Das Wasser plätscherte in die alte Emaillebadewanne, deren Füße Löwenpranken glichen. In seiner Kindheit hatten sie eine ähnliche Badewanne gehabt. Sie war für ihn oft Zufluchtsort gewesen, wenn der Vater noch tyrannischer gelaunt war als gewöhnlich. Ratamo zog sich aus, stieg langsam in das wohltuende, dampfend heiße Wasser und versank in Gedanken. Er fühlte sich allein und schutzlos. Sollte er es wagen, seine Ängste mit jemandem zu teilen? Himoaalto war ein Mann der Tat und würde möglicherweise irgendeine Dummheit begehen, wenn er hörte, in welcher Lage er sich befand. Der Versuch, mit Timo über seine Ängste zu reden, wäre zwecklos. Marketta hatte selbst genug Sorgen, und er besaß jetzt nicht die Kraft, seine Schwiegermutter zu trösten. Liisa könnte er vertrauen, aber sollte er sie tiefer in den Sumpf der Ereignisse hineinziehen? Mehr Wissen könnte auch in diesem Falle mehr Schmerzen bedeuten, sagte sich Ratamo. Das Gefühl der Einsamkeit wurde nur noch schlimmer, wenn er an seine Verwandten dachte. Der Vater verbrachte seine Rentnertage in Spanien. Das letzte Mal hatten sie beim Begräbnis von Kaisas Vater miteinander gesprochen, das war |228| Jahre her. Zu seiner Oma hatte er ein enges Verhältnis, aber er wollte nicht einmal daran denken, die alte Frau mit seiner Geschichte zu schockieren. Es sah so aus, als gäbe es überhaupt niemanden, an den er sich wenden könnte. Außer Pirkko Jalava.
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Die Maschine, in der Wrede und Rautio saßen, war zwanzig Uhr fünfundvierzig Ortszeit in London gelandet, also mit fünf Minuten Verspätung. Wredes Fahrer hatte in einem Volkswagen Passat am Terminal 1 von Heathrow in der Nähe des Taxistandes gewartet.
Es bereitete ihm keine Probleme, dem Taxi Rautios zu folgen. Wrede saß bequem auf dem Rücksitz und beobachtete die schwarze kugelförmige Taxineuheit namens TX1, die vor ihnen fuhr. Der Wagen der London Taxis International war eine modernisierte Version des Londoner Markenzeichens, des legendären Fairway-Modells. Es nieselte, was der vom Sonnenbrand geplagte Wrede als sehr wohltuend empfand. Das Taxi hielt in der Orchard Street vor dem Haupteingang des Hotels »The Selfridge Thistle«. Der Passat stoppte ein paar Meter vom Hoteleingang entfernt. Wrede wartete etwa fünf Minuten, dann schob er rasch die Waffe, die er von dem Fahrer erhalten hatte, in seine Ledertasche, gab dem Mann neue Anweisungen und betrat das Hotel.
Als er sich vergewissert hatte, daß Rautio nicht mehr im Foyer stand, fragte er an der Rezeption in seinem ausgezeichneten amerikanischen Englisch, ob es noch ein freies Einbettzimmer gebe. Die etwa achtzehnjährige dunkelhäutige Frau, die jungenhaft wirkte, bat ihn, einen Moment zu warten, und tippte etwas in ihren Computer ein. Einen Augenblick später |230| teilte sie ihm mit, daß noch eine Suite frei wäre, zum Preis von zweihundertzwanzig Pfund pro Nacht.
Wrede nahm die Suite und erkundigte sich, ob sein Kollege Jari Tolsa schon eingetroffen sei. Die junge Frau mit ihren Locken war ein echter Leckerbissen. Wrede schämte sich für sein breites Brillengestell.
Sie bat Wrede, Rautios seltsam klingenden Tarnnamen auf einen Zettel zu schreiben, hantierte eine Weile am Computer und sagte danach, Tolsa habe das Zimmer Nummer 642. Wrede zahlte die Rechnung im voraus und bar und erhielt die Schlüsselkarte für seine Suite.
Im Aufzug nahm Wrede aus seiner Brusttasche ein Etui, das aussah wie ein Portemonnaie. Er holte eine durchsichtige Faser heraus, die etwas dicker als ein Haar war, und steckte sie in den Mund. Sein Spiegelbild verriet, daß die roten Haare unter der Mütze heraushingen. Wrede ärgerte sich, daß er sich nicht besser maskiert hatte. Mit der Mütze auf dem Kopf und
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