Finnisches Requiem
biß ein kleines Stück von einem Schokoladenkeks ab und wunderte sich, warum die Reinemachfrau seine Yuccapalme nicht mehr goß. Die Pflanze sah verwelkt aus. Aber er hatte keine Lust, das zu beanstanden. Seit er ernsthaft über seine Pensionierung nachdachte, hatte er zu nichts mehr Lust, nicht einmal zum Wetten. Nach dem Streß all der Jahre war die Anspannung nun gewichen. Er fühlte sich leer wie ein Bajazzo-Spielautomat im Gefängnis. Die dreißig Jahre bei der SUPO, davon sechs Jahre als ihr Leiter, wären wie weggewischt, wenn er seine Uniform an den Nagel hängte.
Nicht einmal die abendlichen Rendezvous konnten seine Leidenschaft entfachen. Sie hatten sich im Spätsommer kennengelernt und sofort ineinander verliebt. Niemand wußte davon, es ging die anderen schließlich auch nichts an. Ihre Beziehung würde sich kaum so entwickeln wie bei Riitta Kuurma und Ratamo. Den jungen Leuten sah man an, daß ihre Partnerschaft Bestand haben würde. Einem Witwer wie Ketonen, der im Umgang mit Frauen ungeübt war, bereitete es ungeheuer viel Kopfzerbrechen, wenn er einen neuen Menschen kennenlernte. Er sollte aufhören, alle Frauen, die ihm begegneten, mit Hilkka zu vergleichen, auch wenn sie fast vierzig Jahre verheiratet gewesen waren.
Musti hatte genug vom lustlosen Gekraule ihres Herrchensund wollte auch nicht mehr vergeblich um einen Keks betteln, also trabte sie zu ihrem Lieblingsplatz an der Wand unter den Fahnen Finnlands und der EU.
Noch vor einem Jahr hatte Ketonen Angst vor der Pensionierung gehabt. Den kinderlosen Witwer erwartete nichts als Einsamkeit und Untätigkeit. Jetzt schien es so, als wäre ihm die Zeit als Rentner willkommen. Die Welt der Nachrichtendienste hatte sich verändert, sie war ihm fremd geworden. Im Kampf gegen die fanatischsten Kriminellen genügten die in Demokratien erlaubten Mittel nicht mehr. Die Schwelle, die überschritten werden mußte, um Menschen zu schockieren, lag heutzutage sehr hoch. Terroristen waren gezwungen, irrsinnige Anschläge zu begehen, damit sie von ihren Feinden wahrgenommen wurden.
Wer steckte hinter dem Mord an dem Kommissar? War der Mord an Reinhart ein Terroranschlag? Das würde sich herausstellen, zumindest vorläufig hatten die Mörder nichts von der EU verlangt. Ketonen fühlte sich machtlos, obgleich die Voraussetzungen der SUPO für den Kampf gegen den Terrorismus in letzter Zeit dank der Reformen in der EU besser geworden waren. Eurojust, die kürzlich gegründete gemeinsame Strafverfolgungsstelle der EU, versuchte die internationale Kriminalität und den Terrorismus im voraus zu bekämpfen. Ihre Terrorismusabteilung sammelte Informationen und verteilte sie an die Mitgliedstaaten. Auch Europol arbeitete immer effektiver: Zum Aufgabenbereich der Behörde gehörte seit Anfang des Jahres die gesamte internationale und schwere Kriminalität. Es gab Pläne, die neue Anti-Terror-Einheit von Europol zu einer Polizei und einem Sicherheitsdienst der EU zu entwickeln.
Reiß dich zusammen! Ketonen war wütend auf sich. Er mußte sich auf den Fall konzentrieren und durfte seinen Gedanken nicht freien Lauf lassen. Der Mord im Atheneum deutete auf Terrorismus hin, aber noch war nichts bewiesen.Er würde schon sehr bald im Kreuzfeuer der finnischen Politiker und der internationalen Medien stehen, es mußten also schnell Ergebnisse her. Der Ruf Finnlands stand auf dem Spiel.
Musti trottete zum alten Kachelofen, legte sich hin und suchte genüßlich die beste Position auf dem Stück Teppich vor dem Ofen. Ketonen hatte das kalte Funkenblech im letzten Winter zugedeckt, weil er gern in Strümpfen auf und ab ging. Der Ofen durfte schon seit Jahren nicht mehr geheizt werden.
Das Gebäude in der Ratakatu 12 war für ihn wie ein Zuhause. Den größten Teil seines Erwachsenenlebens hatte er in dem über hundert Jahre alten Haus verbracht. Was sollte er als Rentner tun? Und wenn er nun neunzig Jahre alt würde wie sein Vater?
Schon wieder war eine Kekspackung leer. Die Einhaltung der vom Arzt verordneten Diät erschien ihm im Augenblick zweitrangig, einfacher wäre es, längere Hosenträger zu kaufen. Er würde aber nicht wieder anfangen zu rauchen. Zumindest jetzt noch nicht.
Ketonen band sich den schmalen dunkelblauen Schlips um. Die Sitzung des Außen- und sicherheitspolitischen Ausschusses begann in einer halben Stunde.
SONNTAG
5
Das grüne Kamel schleckte ein Eis und wollte ihm kein Jägerschnitzel bringen, obwohl in dem Steakhouse mitten in der Wüstenoase
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