Finnisches Requiem
hatte sich in der Sicherheitsabteilung eine Liste der Verdächtigen besorgt. Zwei Gruppierungen besaßen ein besonders starkes Motiv, die Erweiterung der Union zu verhindern. Zur ersten gehörten Griechenland, Spanien, Portugal und Irland, die umfangreiche Subventionen für die Landwirtschaft erhielten, zur zweiten die vonder Einwohnerzahl her großen Nettozahler Deutschland und Großbritannien. Der dritte Gegner der Erweiterung waren die Vereinigten Staaten, mit deren Wirtschaft die Union konkurrierte.
Wrede räusperte sich, schaute von seiner Liste auf und meinte sachkundig, es gebe Hunderte Organisationen, die gegen die Europäische Union auftraten. Die fundamentalistischen Bewegungen, die in der EU ein neues Römisches Reich und eine Brutstätte des Antichristen sahen, die extrem nationalistischen rechten Parteien und die Aktivistengruppen junger Radikaler wären jedoch kaum in der Lage, so ein Attentat zu organisieren. »Einige Organisationen von Aktivisten akzeptieren allerdings die Anwendung von Gewalt. Meiner Meinung nach …«
»Kehren wir auf den Boden der Tatsachen zurück«, unterbrach ihn Ketonen und verpaßte dem Rotschopf damit einen Dämpfer. »Gibt es einen Finnen, den du verdächtigst?«
»Der einzige ist Ismo Varis. Er hält die Europäische Union für Finnlands Feind Nummer eins. Seiner Auffassung nach werden wir durch die EU mit dem globalen Kapitalismus verschmolzen. Dieser Mord sieht allerdings nicht nach einer Aktion von Varis oder dem ›Global Block‹ aus.«
»Von wem?« Mit der Frage verriet Ratamo seine Unkenntnis. Der Appetit auf Kautabak wurde durch das Adrenalin noch verstärkt. Alle schauten zu ihm hin, als sie das schon vertraute Geräusch beim Öffnen der Tabakdose hörten.
Erst nachdem Ketonen es ihm befohlen hatte, informierte Wrede sie über die Organisation, wobei er jedes Wort betonte. Ismo Varis sei einer der führenden Köpfe der gewalttätigen Extremistengruppe »Global Block« und ein alter Bekannter der Sicherheitsabteilung. Diese Protestbewegung widersetze sich der Globalisierung, der globalen Politik und der Machtkonzentration in den Händen einiger Superführer.Der »Global Block« sei dafür bekannt, daß er die EU, die Welthandelsorganisation WTO, den Internationalen Währungsfonds IWF und die Gipfeltreffen der G8-Länder sabotiere. Seine Aktivisten hätten schon in allen Teilen der Welt Filialen von Banken, internationalen Konzernen und großen Handelsketten zerstört. Auch die Anwendung von Gewalt werde von ihnen akzeptiert, wenn sie dazu diente, die Ziele der Organisation zu erreichen. Der »Global Block« strebe zunächst die Abschaffung der internationalen Finanzinstitute und dann eine Art Revolution an, kurz: den Sturz des supranationalen Kapitalismus. Danach sei die Rückkehr zu einer Welt unabhängiger Nationalstaaten vorgesehen.
Wrede ereiferte sich während seines Berichts immer mehr. »Man kann den neoradikalen Bewegungen nicht mehr gleichgültig gegenüberstehen. An den großen Demonstrationen der letzten Jahre haben Zehntausende Aktivisten teilgenommen; beim EU-Gipfel in Barcelona sind fast eine Viertelmillion Demonstranten marschiert.«
Ketonen dachte einen Augenblick nach. »Riitta und Arto können sich auf die möglichen politischen Motive konzentrieren und darüber nachdenken, warum Reinhart in Finnland ermordet wurde, außerdem klären sie die Verbindung zu ›Magyar Nemzet‹. Erik, du überprüfst Varis und den ›Global Block‹, du bist für die Arbeit der Ermittlungsgruppe verantwortlich und suchst die Täter. Halte ständig Kontakt zu Europol, Eurojust, Interpol und zu den Sicherheits- und Nachrichtendiensten der anderen EU-Staaten und zu unserer Kriminalpolizei. Ich gehe jetzt zu einer Sitzung des Außen- und sicherheitspolitischen Ausschusses. Die Präsidentin wird auch dabeisein. Nach der Sitzung gebe ich ein paar Interviews. Ein derart großes Interesse der Medien für Finnland gab es das letzte Mal bei den Olympischen Spielen in Helsinki.«
Ratamo ärgerte sich. Warum leitete Ketonen die Ermittlungsgruppe nicht selbst? Die Aussicht, unter Wrede arbeiten zu müssen, war nicht gerade verlockend. Er nahm sich jedoch vor, mit dem Schotten auszukommen. Dieser Fall war es wert.
Jussi Ketonen ließ sich auf seinen grünen Schreibtischsessel fallen und kraulte Musti unterm Kinn. Die alte Hündin, ein Labrador Retriever mit hellem Fell, gab ein tiefes Brummen von sich. Ketonen trank ohne Appetit den kalten Kaffee aus seinem Holzbecher,
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