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Finnisches Requiem

Finnisches Requiem

Titel: Finnisches Requiem Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Taavi Soininvaara
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gähnende Leere herrschte. Der Durst plagte ihn so sehr, daß er beschloß, dem Kamel zehntausend Dinar für ein Bier zu bieten. Doch urplötzlich tauchte ein Tuareg in seinem Umhang auf, er sah aus wie Wrede und riß ihm das Bündel Geldscheine aus der Hand. Dann schüttete der Mann Sand in ein großes Bierglas, packte ihn im Genick und kippte ihm den ganzen Sand in den Rachen. Im selben Moment verschlang das Kellnerkamel den Rest seiner Eistüte und schlug mit dem Huf an einen riesigen Gong.
    Als es an der Tür klingelte, brach die Vorstellung im Traumtheater ab, und Ratamo wachte auf. Sein Blick suchte die blutroten Ziffern des digitalen Weckradios, es war vier Uhr sechsundzwanzig. Sie hatten bis weit nach Mitternacht gearbeitet und erst ein paar Stunden geschlafen.
    Verdammter Himoaalto. 1 Kam der Störenfried schon wieder zu ihm, nachdem man ihn in irgendeiner Kneipe mit dem Spülwasser ausgekippt hatte. Timo Aalto, Ratamos Freund seit Kindheitstagen, war in den letzten Monaten zu einer echten Landplage geworden. Im Februar hatte ihn die Datenschutzfirma SH-Secure rausgeworfen. Himoaalto war für das Verschlüsselungsprogramm verantwortlich gewesen,das man geknackt und genutzt hatte, um eine amerikanische Bank auszurauben. Die unerwartete Freiheit hatte er zunächst wie im Rausch genossen, er sprühte geradezu vor Ideen und bemutterte seine Kinder wie eine Henne. Als der Frühling kam, legte sich sein Eifer allmählich, dann resignierte er und fing schließlich an zu trinken. Für Ratamo waren Himoaaltos Besuche und die Anrufe seiner besorgten Frau ein Martyrium, das sich fast jede Nacht wiederholte.
    Ratamo knurrte der Magen, und sein Mund war trocken. Er schob den Vorhang an seinem massiven Eichenbett beiseite, setzte die Füße auf den Dielenfußboden und stand auf. Ihm wurde schwindlig. Riitta schniefte tief im Schlaf. Als sich Ratamo vorbeugte, um die Unterhosen anzuziehen, schmerzten seine Oberschenkel. Die Klingel dröhnte wie Kirchenglocken. Bald würde das ganze Haus wach sein.
    »Mensch, Arto, alte Granate. Mach mal den Calvados auf«, rief Himoaalto begeistert, als Ratamo die Tür öffnete.
    Schnapsgestank breitete sich im Flur aus. Timo standen die Haare zu Berge, die geröteten Augen glänzten, und sein Hemd hing vorn aus der Hose. Er war stockbetrunken.
    »Mann, es ist halb fünf. Was zum Teufel hast du bloß im Kopf?« Ratamos Stimme wurde ungewollt lauter.
    »Meine Augen«, entgegnete Himoaalto und schwankte im Türrahmen hin und her.
    Ratamo zog Timo herein, schloß die Tür und überlegte, wie er seinen Freund zum Schweigen bringen konnte, bevor die Nachbarn aufwachten. Es gab drei Alternativen: Schnaps, Essen oder die Faust. Welche der drei Möglichkeiten würde am schnellsten zum Ziel führen?
    Plötzlich splitterte Glas. Das Klirren hörte man in der ganzen Dreizimmerwohnung. Himoaalto war gegen den antiken Spiegeltisch im Flur gestoßen und hielt sich nun am leeren Rahmen fest. In betrunkenem Zustand bewegte sichder fast zwei Meter große Mann so behende wie ein Sumo-Ringer im Ballett.
    »Verdammt, du Trottel«, entfuhr es Ratamo. Soviel zu dem Versuch, leise zu sein. Nelli stand auf dem Flickenteppich im Flur, rieb sich die Augen und rollte vor Angst den Saum ihres Pyjamas auf, den ein Bild der Mumins schmückte.
    Ratamo glaubte in Himoaaltos Augen einen Anflug von Scham zu erkennen, als er sein Patenkind begrüßte und etwas von seiner Tochter Laura stammelte, die nur ein paar Monate älter war als Nelli. Ratamo wußte nicht, wen er mehr bedauern sollte, Laura oder Himoaalto. Er nahm Nelli an der Hand, brachte sie zu Riitta, die von dem Lärm aufgewacht war, und erklärte ihr, was draußen vor sich ging. Riitta knurrte etwas und nahm Nelli zu sich unter ihre Decke. Ratamo ahnte, daß sie über diesen nächtlichen Besuch noch ein langes und ernstes Gespräch führen würden.
    Unter der Bettdecke war Riittas gedämpfte Stimme zu hören: »Ich will dich ja nicht aufhetzen, aber ich würde jetzt schon zuschlagen.«
    »Kaffee oder Bier?« fragte Ratamo seinen Freund in der Küche und bemerkte erst danach, daß der die Calvadosflasche schon aus dem Barschrank geholt hatte. Er sagte nichts dazu, er hatte keine Lust, sich mit einem Betrunkenen zu streiten, das taten nur Dummköpfe. Es hatte auch einen Vorteil, daß er mitten in der Nacht geweckt wurde: Er konnte sich richtig satt essen. Nach dem Marathon würde sich sein Magen so viel wie eine ganze schottische Hochzeitsgesellschaft

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