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Finnisches Requiem

Finnisches Requiem

Titel: Finnisches Requiem Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Taavi Soininvaara
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im Mund, der aus der Speiseröhre hochkam. An dieses Gefühl gewöhnte man sich nie.
    Vorsichtig spähte er hinaus. Da kein Schuß krachte,schaute er richtig aus dem Fenster und sah die Angreifer zur hinteren Mauer des Innenhofes laufen. Wenn er ihnen über die Treppe folgte, würde er sie aus den Augen verlieren. Bis zum Erdboden waren es vier, vielleicht fünf Meter. Auf dem Hof tuckerte ein Lastkraftwagen, das Fenstergitter hatte man mit einem hydraulischen Kran herausgerissen, der auf der Ladefläche des Lkw befestigt war. Am Ende des Kranauslegers hing eine dicke Eisenkette, und an der schaukelte das Fenstergitter. Die Kette war nur einen Meter von ihm entfernt.
    Für einen Moment war Ratamo unschlüssig. Was zum Teufel sollte er tun, wenn er die Männer einholte? Vielleicht konnte er ihnen folgen? Kurz entschlossen stieg er aufs Fensterbrett, ging in die Hocke und sprang ab. Er griff nach der Kette wie nach einem Rettungsring und ließ sich an ihr hinab. Die Entfernung zum Boden betrug noch etwa zwei Meter, zum Glück war es Rasen. »Beine anziehen und abrollen«, murmelte er mehrmals und ließ los.
    Der kleine Mann im blauen Overall verschwand gerade durch die Hintertür des Innenhofes, als Ratamo auf dem Rasen den Kopf hob. Ihm tat nichts weh. Er sprang auf und erstarrte, hinter ihm brüllte jemand etwas. Ratamo drehte sich um und sah, daß ein Polizist in Uniform mit seiner Waffe auf ihn zielte.
    »Police … Polizei«, stammelte Ratamo und griff nach seiner Brieftasche in der Hose.
    Der Polizist schrie ihn an und drohte mit seiner Waffe, aber Ratamo erklärte auf englisch, daß die Mörder entkommen könnten, und tastete vorsichtig nach seinem Dienstausweis. Er hielt ihn vor sich hin, ging zu dem Polizisten und ließ ihn den Ausweis genau zwei Sekunden anschauen. Dann stürzte er den Flüchtenden hinterher. Der ungarische Polizist brüllte ihm etwas nach. Ein Schuß war aber nicht zu hören.
    Ratamo rannte über den Innenhof, der so lang war wie ein ganzer Häuserblock, und wich dabei den Bäumen aus, er öffnete die kleine Tür in dem hohen Stahltor und trat auf die Honvéd utca. Dieses Tor wurde nicht bewacht, es ließ sich nur von innen öffnen.
    Die Angreifer waren verschwunden. Ratamo sah in dem Park auf der anderen Seite ein paar alte Leute, die aufgeregt mit den Armen in die Richtung hinter dem Park zeigten und laut redeten. Jetzt mußte er seine Umgebung richtig interpretieren. Er rannte am Rand des Parks entlang, an einem Kinderspielplatz vorbei, und erkannte, auf welche Straßenecke die alten Leute starrten.
    Er wandte sich nach links und sah in der Ferne kurz eine blaue Gestalt, die rechts in einer kleinen Straße verschwand. Was passierte, wenn die Männer hinter der Straßenecke auf ihn warteten? War ihm wirklich klar, was er tat? Ratamo rannte bis um die Ecke und wäre beinahe gegen ein Baugerüst gestoßen. Er hatte die Killer fast eingeholt. Zwei von ihnen bogen etwa hundert Meter entfernt nach links ab. Ratamo sprintete die hundert Meter, wandte sich nach links und mußte abbremsen: Vor ihm drängten sich die Menschenmassen auf dem Großen Ring, auf der Szent István körút.
    Man sah noch eine Gasse, die sich in der Menge gebildet hatte, und einige Fußgänger schauten sich verdutzt um. Ratamo vermutete, daß die Männer dort entlanggerannt waren. Er schnallte sein Schulterhalfter ab, warf es in einen Müllbehälter und steckte seine Waffe in den Gürtel der Jeans. Es war unmöglich, in einem Gedränge voranzukommen, wenn die Leute die Waffe sahen und in Panik gerieten. Im selben Moment entdeckte er die Fassade des riesigen Bahnhofs und das Metro-Zeichen, und ihm wurde klar, wohin die Männer wollten.
    Einer Eingebung folgend, überquerte er die Straße, umvon der Váci út in den Tunnel hinabzusteigen. Es könnte sein, daß die Männer ihn hier, an der Treppe der Szent István körút, erwarteten. Uringestank stach ihm in die Nase. Überall herrschte ein dichtes Gedränge wie beim Schlußverkauf. Durch den Tunnel gelangte man sowohl zum Fernbahnhof als auch zur Metro.
    Ratamo blieb mitten in der Menschenmenge stehen, Schieben und Drängeln hätten nichts geholfen. Er hielt Ausschau nach dem Trio. Die mageren Welpen eines Tierhändlers lagen in ihren Käfigen. Ein Mann spielte auf einem Synthesizer, den eine südkoreanische Miniflagge schmückte. Eine Großmutter lag auf dem Bauch und hielt in der einen Hand ein Kruzifix und in der anderen eine Schüssel für Almosen. Rundum wogte ein

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