Finnisches Roulette
legte sich hin.
De Lange brauchte vor dem Flug nach Verona ein paar Stunden Schlaf. Von der Kraft und Ausdauer der Jugend war dem fünfzigjährigen Mann nur noch die stolze Erinnerung geblieben. Zum Glück brachte das Alter immerhin die Erfahrung mit sich. Manche nannten das Klugheit, aber Wim de Lange nicht. Er wußte, daß er auch heute einen Fehler gemacht hatte, als er auf der Jósefa-Straße Laura Rossi losließ, um dem verwundeten Piet zu helfen. Sein Fehler hätte die finnische Frau fast das Leben gekostet.
Bei diesem Auftrag war manches merkwürdig. Warum durfte die Sicherungsgruppe niemanden töten? Es war nicht einfach, sich mit Gummigeschossen zu verteidigen, denn sie betäubten die Opfer nicht, und es erwies sich als schwierig, Treffer am Kopf, die tödlich waren, zu vermeiden. De Lange erinnerte sich an seine eigene Geschichte der Schmerzen. Im August 1990 hatte ihn in Soweto ein Gummigeschoß, ein Irrläufer der Polizei, in den Oberschenkel getroffen und zur Jahrtausendwende in Kinshasa eine Metallkugel in den Arm. Das Gummigeschoß bereitete größere Schmerzen, weil in der Zone des Geschoßaufschlags mehr Nervenenden lagen. Oder vielleicht konzentrierte man sich nur mehr auf den Schmerz, weil die Todesangst fehlte.
Der laufende Auftrag stellte jedoch eine willkommene Abwechslung dar. Zur Überraschung de Langes war es genauso anstrengend, einen Menschen zu schützen, wie jemanden umzubringen. In gewisser Weise wurde von einem Leibwächter sogar mehr verlangt als von einem Mörder, der ja den Zeitpunkt, den Ort, die Waffen – kurz, alles selbst bestimmen konnte. De Lange kannte beide Seiten der Medaille.
Er schraubte sich hoch und zog die nach Zigarettenrauch stinkenden, dunkelgrünen Gardinen zu. Ihn plagte Heimweh, das geschah nicht oft. Zwanzig Jahre lang hatte er Kinder, Frauen, Männer und manchmal auch Soldaten umgebracht, Südafrika aber dann rechtzeitig, bevor Nelson Mandela Präsident wurde, den Rücken gekehrt. Seitdem bot er seine Dienste überall in der Welt auf dem freien Markt zum Kauf an. Seine Entscheidung hielt er immer noch für richtig, obwohl nicht viele seiner ehemaligen Kollegen, die in der Heimat geblieben waren, für ihre Taten zur Verantwortung gezogen wurden. Selbst die dümmsten Mörder hatten begriffen, daß sie der Wahrheitskommission einfach ihre Sünden gestehen mußten, um für ihre Verbrechenaus der Apartheid-Zeit begnadigt zu werden. De Lange glaubte an die Stärke, er würde nie verstehen können, warum die Schwarzen die Mörder ihrer eigenen Leute mit der bloßen Bitte um Verzeihung davonkommen ließen.
Jetzt war alles anders, de Lange arbeitete für einen Schwarzen. Er schämte sich eigentlich nicht dafür, Geld hatte immer den gleichen Geruch, egal, wer es zahlte. Aber seine Tochter würde er Magadla trotzdem nicht vorstellen. Der Mann erwies sich in vieler Hinsicht als guter Auftraggeber: Er war logisch, ruhig und ohne Haß, der vielen Radikalen den Kopf vernebelte. Auf seine Weise schätzte de Lange den beharrlichen Kampf des Xhosa-Mannes für seine Grundsätze. Einmal hatte er sogar vorgehabt, sich Magadla anzuvertrauen und ihm zu erzählen, was er von Oberst Agron wußte. Vielleicht morgen, überlegte de Lange kurz vor dem Einschlafen.
Magadla wachte auf und versuchte im düsteren Licht der Nachttischlampe nach dem Knüppel des Gefängniswärters zu greifen. Ruckartig richtete er sich auf und brauchte eine Weile, bis er begriff, daß er diesmal, um das Gefängnis von Grootvlei zu verlassen, einfach nur wach werden mußte. Die Folterszene in seinem Alptraum hatte ihm den Schweiß auf die Stirn getrieben, er strich über seinen Kopf und spürte die kahlgeschorene Haut. Und die Stiche. Dreiundzwanzig zählte Magadla, dann drückte er den Notrufknopf am Metallgestell des Bettes. In seinem Kopf hämmerte es so stark, daß die Augen feucht wurden.
Das Warten schien eine Ewigkeit zu dauern. Der Schmerz strömte in die Augenhöhlen und die Gesichtsmuskeln und ließ ihn am Rande der Bewußtlosigkeit schweben. Es war ein schwacher Trost, daß er jetzt wegen seiner eigenen Dummheit und nicht wegen eines sadistischen Systems leiden mußte.
Die Tür wurde geöffnet. »Was ist los?« fragte die Schwester mit müder Stimme.
»Geben Sie mir ein Schmerzmittel. Etwas, das sofort wirkt. Und viel. Wo bin ich?«
Während die Schwester eine Spritze vorbereitete, erfuhr Magadla, daß er im Bürgerhospital in Frankfurt lag.
Das intravenös gespritzte Schmerzmittel
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