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Finnisches Roulette

Finnisches Roulette

Titel: Finnisches Roulette Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Taavi Soininvaara
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wirkte rasch, und Magadlas Gehirn war wieder bereit zu arbeiten. Die Schwester entfernte sich, nachdem sie gesehen hatte, daß der Patient sich entspannte.
    Es war sieben Uhr früh, Magadla sah die blutroten Ziffern der Digitaluhr. In Finnland also acht Uhr. Eero Ojala reiste gerade nach Verona, er würde den Mann erst in Italien telefonisch erreichen. Wütend schlug Magadla mit der Faust auf den Nachttisch, er spürte den schneidenden Schmerz in seinem Kopf, der bis ins Rückgrat ausstrahlte, und versuchte sich zu beruhigen. Er mußte Wim de Lange anrufen, ihm von der veränderten Lage berichten und befehlen, mit seinen Männern nach Verona zu fliegen und Ojala zu schützen. Etwas anderes konnte er nicht tun.
    Diesmal würde es die Gruppe nicht so leicht haben wie in Kraków, weil Oberst Agrons Leute nun wußten, daß der Finne geschützt wurde. Der Oberst würde bestimmt mindestens ein Dutzend ehemaliger israelischer Soldaten nach Verona schicken. Plötzlich hatte Magadla eine glänzende Idee: Er würde de Lange den Befehl erteilen, sich Ojala schon auf dem Flughafen von Verona zu schnappen.
    19
    Die Schlange an der Kasse des Supermarktes im Bahnhofstunnel kroch nur langsam vorwärts, wie immer abends. Es war kurz vor neun Uhr. Ratamo ärgerte sich, daß er tagsüberkeine Zeit gehabt hatte einzukaufen. Und es regte ihn auf, daß nur zwei Kassen geöffnet waren, obwohl in dem Markt ein Andrang herrschte, als wäre es der einzige »Alko«-Laden im Umkreis von hundert Kilometern. Die Leute kehrten vom Mittsommerwochenende zurück. In den nächsten Tagen würde Ratamo bei den Ermittlungen so eingespannt sein, daß er nicht dazu käme, ordentliches Essen zu kochen, deshalb befanden sich im Einkaufswagen mehr Kalorien als im ganzen Tschad: Fleischpiroggen, Kartoffelchips, Limonade und Bier. Nelli schwenkte ihren Geigenkasten wie eine Gitarre und summte irgendeinen Popsong.
    Ratamo hatte sie gerade aus Kulosaari von einem kleinen Konzert abgeholt und dabei ein Erlebnis gehabt, das ihn noch beschäftigte. Die Mutter von Nellis Freundin Liisa hatte Ratamo enthusiastisch einen Vortrag über die glanzvolle Zukunft ihrer Jüngsten gehalten. Demnach würde Liisa ab August die Schule in Roihuvuori, eine Grundschule mit Musikausrichtung, besuchen und dort jeden Tag Musikunterricht erhalten. Zudem lernte die außergewöhnlich begabte Liisa an der Musikschule von Osthelsinki, erhielt Privatunterricht von einer pensionierten Lektorin der Sibelius-Akademie und entwickelte ihre Konzentrationsfähigkeit und Selbstbeherrschung beim Bogenschießen. Ihre Eltern lasen alles, was über die Erziehung begabter Kinder geschrieben worden war, und bereiteten sich so darauf vor, daß ihre Tochter die Welt eroberte.
    Ratamo wußte nicht, wen er mehr bemitleiden sollte, das Wunderkind Liisa, das seine Karriere schon mit vier Jahren begonnen hatte, oder die Eltern des kleinen Mädchens wegen ihres Weltbildes. Ähnliche Geschichten hörte er einfach zu oft. Das Leben war zu einem einzigen großen Wettbewerb geworden. Die Leistungen der Kinder, die Höhe des Gehalts, der Preis des Autos, die Größe der Wohnung – alles wurde wie beim Skispringen gemessen. Ratamo begriffnicht, was die Menschen zu diesem Wettbewerb um den höchsten Lebensstandard trieb, den man nie gewinnen konnte. Es fand sich immer jemand, der ein größeres Ferienhaus hatte. Vor lauter Wettbewerb kamen die Menschen nicht mehr zum Leben.
    Was würde mit dem Wettbewerbstrieb des Menschen künftig geschehen, überlegte Ratamo, wenn Biotechnologieunternehmen wie Genefab die Richtung diktierten. Würde die Entwicklung der Gentechnologie zur Manipulierung menschlicher Embryos führen, und gäbe es dann einen Wettlauf der Eltern beim Kauf nützlicher Eigenschaften für ihre Kinder? Entstünde in den westlichen Ländern ein neues Kastensystem, in dem jene, die es sich leisten konnten, also die mit den »reichen Genen«, sich allmählich zu einer eigenen Rasse entwickelten und die anderen Menschen, die »natürlichen«, zurechtkommen mußten, so gut sie konnten? Würde im Personalausweis jedes Menschen seine genetische Struktur gespeichert, die dann darüber entschied, wo die Person studieren konnte, welche Arbeit sie bekam und ob ihr eine Lebensversicherung gewährt wurde? Vielleicht würden die Menschen über kurz oder lang auch ihren Lebensgefährten auf der Grundlage der genetischen Eigenschaften auswählen. Und alle, die zu psychischen Erkrankungen, Übergewicht oder Herzkrankheiten

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