Finnisches Roulette
Maschinen, die als Feuersäulen abstürzten, zertrümmerte Flugzeugwracks und verkohlte Leichen … Das Motorengeräuschwurde lauter und klang nun wie ein Brüllen, dann schien die Maschine gegen irgend etwas zu stoßen und über einen Kartoffelacker zu holpern. Nach Sekunden, so lang wie eine Ewigkeit, wurde der Flug wieder ruhiger. Die Stewards und Stewardessen schoben ihre Wagen zurück in die Küche, obwohl die Hälfte der Passagiere noch auf ihr Frühstück wartete. Ojala blieb fast das Herz stehen, als er bemerkte, daß sich auch das Personal anschnallte.
Hatte die Maschine einen technischen Defekt? Ojala sah angstgeweitete Augen und hier und da ein unsicheres Lächeln. Die Männer versuchten sich nichts anmerken zu lassen, die Kinder weinten, und niemand rührte sein Essen an. Alle warteten darauf, was nun kommen würde. Ojala hätte am liebsten laut geschrien und den Gurt aufgerissen, um irgendwohin zu rennen, aber er durfte sich nicht gehenlassen. Er würde beweisen, daß sein männlicher Vorname nicht das einzig Maskuline an ihm war, wie Karoliina seinerzeit behauptet hatte.
»Hier spricht der Kapitän der Maschine …« Eine Ruhe ausstrahlende Männerstimme bat um Entschuldigung und erklärte in drei Sprachen, daß sie soeben durch ein Gebiet ungewöhnlich starker Turbulenzen geflogen waren. Die Durchsage ließ manchen erleichtert lächeln, und auch eine witzige Bemerkung war zu hören, die aber aufgesetzt wirkte.
Ojala war der Appetit vergangen, seine Hände zitterten, als er den Deckel des Frühstückstabletts zudrückte, und sein Herz schlug immer noch wie ein Specht im Rausch. Er schwor sich, nie wieder einen Fuß in ein Flugzeug zu setzen.
Zum Glück hatte er schon alle Orte besucht, in denen Elli gewesen war: Paris, die Bretagne, Pont-Aven, St. Ives in England, Genf, Rom, Florenz, Mailand, Turin, Petersburg, Wien und auch Saltsjöbaden, den Sterbeort Ellis in derNähe von Stockholm. Für Ojala waren das keine Urlaubsreisen gewesen, sondern eher Pilgerfahrten. Er dachte wieder an das »Mädchen auf dem Sofa« und versuchte sich so zu beruhigen. Im Glanz der Mädchenaugen lag etwas Zauberhaftes, eine Empfindsamkeit, die nur Elli auf die Leinwand übertragen konnte.
Unvermittelt kam ihm der Gedanke, wie wohl seine Schwester ihr Erbe verwenden würde. Für Laura besaß Geld keinen so sehr hohen Stellenwert. Die Geschwister hatten nur selten Kontakt zueinander, weil er in seiner Studienzeit die Nabelschnur zur Schwester gekappt hatte, um zu lernen, wie man allein zurechtkam. Während des größten Teils seiner Kindheit war Laura für ihn eine Art Elternersatz gewesen, vor seiner Mutter hatte Ojala Angst gehabt. Laura war nur zwei Jahre älter als er, aber die Mutter hatte ihre Tochter schon als Kind wie eine Erwachsene behandelt.
Ojalas Gedanken wanderten wieder zu den Aktien der H & S Pharma, die er von Werner Halberstam geerbt hatte, und zu Dr. Alfredo Cavanna. Das erstemal in seinem Leben war er seiner Tante Anna dankbar, die er seit der Kindheit haßte. Weil sie einst eine gute Partie gemacht hatte, erhielt er nun die Möglichkeit, das »Mädchen auf dem Sofa« zu kaufen. Der größte Glücksfall war freilich Alfredo Cavannas Zusage, seinen Vorschlag, das Gemälde gegen die Aktien des Pharmaunternehmens einzutauschen, in Erwägung zu ziehen. Ojala begriff immer noch nicht, wie die Glücksgöttin ihn plötzlich gefunden hatte. Cavanna wollte doch nicht etwa seine ethischen Grundsätze testen? Er nahm sich vor, die Echtheit und den Wert des Gemäldes nach bestem Wissen und Gewissen objektiv und ehrlich zu beurteilen.
Ojala wartete den ganzen weiteren Flug angeschnallt auf Luftlöcher. Seine Nachbarn warfen ihm besorgte Blicke zu, und der Steward kam und fragte, ob ihm nicht gut sei. DerAugenblick, als die Reifen des Fahrwerks den Asphalt der Landebahn auf dem Flughafen Malpensa berührten, erschien ihm heilig.
Nach dem Verlassen der Maschine setzte sich Ojala auf die erstbeste Bank, die er im Flughafengebäude von Mailand entdeckte, und genoß für einen Moment die unerschütterliche Sicherheit des auf dem Fußboden festgeschraubten Sitzes und ausnahmsweise sogar die Anwesenheit vieler Menschen um ihn herum.
Als er sich beruhigt hatte, packte er seinen Laptop aus, holte das Handy aus der Brusttasche seines Sakkos und nahm eine drahtlose Verbindung ins Internet auf. Es war kurz vor elf, er könnte bis um eins auch mit dem Zug in Verona sein. Fliegen kam für ihn jedenfalls nicht mehr in
Weitere Kostenlose Bücher