Finns Welt - 02 - Finn reloaded
der Aufgabe wie Flo am Rechner in seinen Fantasiewelten. Alles wird unwichtig. Alles bleibt weit weg, draußen, in der fernen Welt außerhalb des Waldes. Schlechte Mathenoten. Misslungene Lügengeschichten. Der spuckende Dustin. Sogar die Tagträume mit Vivien und mein schlechtes Gewissen deswegen. Die großen Sorgen verblassen, während die Umgebung hervortritt wie Nahaufnahmen in Naturreportagen. Ich sehe Käfer in den Borken der Rinde. Ich streife mit der Hand über Moosflechten. Ich beobachte rote Ameisen, wie sie sich mit zappelnden Beinchen an winzigen Zweigen hochwuchten. Der Wald, der auf den ersten Blick wie ein beliebiges Durcheinander aussieht, kriegt mit jedem Schritt ein Gesicht. Ein Gesicht mit Furchen aus Rinde, Haaren aus Laub und Augen, die die Welt schon sahen, als in Europa noch Könige herrschten. Wenn ich als kleiner Junge mit meinen Eltern in den Urlaub fuhr, klebte mein Blick immer auf den steilen, bewaldeten Bergen am Horizont hinter der Autobahn. Ich stellte mir vor, ich könnte mit einem Schnipp dort oben landen, tief im Unterholz zwischen den Bäumen. So fühlt es sich jetzt an. Heiner lässt uns einfach suchen. Er vertraut blind darauf, dass wir alles finden, was wir brauchen, und auch den Weg zum Lager nicht vergessen. Rechts oben in meinem Blickfeld wird die Anzahl der Äste angezeigt, die wir schon gefunden haben. 24 von 200. Sie schimmert goldgelb. Ich stelle mir vor, welcher Soundtrack unter dieser kleinen Quest liegen würde. Geheimnisvolle Musik mit sanften Trommeln, finsterem Cello und eingebautem Knistern. Manchmal dauert es zwanzig Minuten, bis ich überhaupt einen tauglichen Ast finde, aber keine Sekunde ist langweilig. Bei jedem Schritt freue ich mich auf den nächsten.
Mit einem Knacken im Unterholz erscheint Flo neben mir und sagt so leise, als könne er Rehe vertreiben: »In Spielen laufe ich oft einfach nur so herum und gucke mir die Landschaft an. Jedes Büschel Gras. Bei Pure bin ich sogar schon mal in Schrittgeschwindigkeit gefahren, weil ich die Umgebung in Ruhe betrachten wollte. Die Designer haben sich schließlich mit der Natur viel Mühe gemacht.«
Ich sage, den Blick in den Baumkronen: »Wie viel Mühe Gott sich wohl mit dem Design dieser Welt gemacht hat? Falls es ihn gibt.«
Flo atmet tief ein. Jeder Schritt gibt im Wald ein Dutzend Düfte frei. Mal frisch, mal modrig, mal wie Kräutersuppe und mal wie ein Fußbad gegen Erkältung. Das fehlt auf dem PC oder der Playstation. Die Gerüche. Die körperliche Anstrengung. Das Gefühl, das Holz zu nehmen und zu brechen. Die kleinen Schnitte in der Hand.
Die passenden Äste und Stämme für das Baumhaus und den Bogen sind quer durch den Wald verteilt. Manche klauben wir vom Boden auf und ein paar schlagen wir direkt von den Bäumen. Die Wege von Zielobjekt zu Zielobjekt sind lang, aber sie lohnen sich. Wir suchen und sammeln den ganzen Tag, aber wir spüren es nicht. Die Zeit löst sich auf und die Welt ist nur noch Wald. Es ist fast Abend, als wir die letzten Äste auf den großen Haufen neben dem Zelt werfen. Die Anzeige blinkt fett auf, als sie 200 von 200 anzeigt, dann zischt es kurz und mit einem Geräusch wie glitzerndes Klimpern zerfällt die Zahl in Goldstaub. Quest erfüllt. Lukas war ebenfalls fleißig. In der Kuhle liegen Brennholz und geschälter Reisig. Auf einem Tuch daneben sauber zerbröseltes Zundermaterial. Unsere Eltern würden kaum glauben, dass wir immer machen, was Heiner sagt – und dann auch noch so gut. Ohne Nachfragen. Ohne Sich-doof-stellen. Ohne Murren. Er will halt was anderes als Aufräumen oder Mathe.
»Sieben Stunden«, sagt Heiner und schaut auf seine Sportuhr. »Nicht schlecht.«
»Wir haben sieben Stunden am Stück Material gesammelt?«, fragt Flo.
»Habt ihr auch die Bonusmission erfüllt?«, fragt Heiner. Wir haben. Ich habe das Weichholz, Lukas das Hartholz und Flo den gebogenen Ast. Heiner nimmt ihn, sagt: »Gut«, zieht eine Kordel aus seinem Seesack und bindet sie an die Enden, bis sie stramm ist. Mein Herz klopft. Er baut tatsächlich einen Bogen. Ob er nun von uns verlangt, Pfeile zu schnitzen? Kann ich Pfeile in den Körper eines Tieres schießen? Heiner nimmt das Weichholzstück – den breiten Ast einer Birke –, legt es auf einen Baumstamm und zerkleinert es mit Axt und Säge so oft, bis er ein grobes Brettchen hat. Es ist schon komisch. Ich meine, da sind wir: drei Jungs allein im Wald mit einem Mann, der eine Axt in der Hand hält. Heiner war noch ein Fremder vor
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