Finns Welt - 02 - Finn reloaded
wenigen Wochen. Aber unsere Eltern vertrauen ihm. Er dreht sich um, legt das Brett auf den Boden, klappt ein Messer auf, gibt es Flo und bittet ihn, eine Kerbe in das Holz zu schnitzen. Flo nimmt das Messer entgegen, als wäre ihm das wertvollste Schwert bei World of Warcraft geschenkt worden. Während er kratzt, schält Heiner den Hartholzzweig vom Ahorn, zerteilt ihn und spitzt ein Ende an. Also macht er doch Pfeile! So haben sich unsere Eltern das sicher nicht vorgestellt. Wir drei auf der Jagd mit einem Mann, der seinen Bogen selber baut. Ich zupfe an der Kordel. Sie ist nicht annähernd so straff wie die Bespannung eines echten Bogens. Der Pfeil wird sicher viel zu langsam fliegen und das Beutetier nur halb durchbohren. Es wird sich in Schmerzen winden und dann müssen wir es »erlösen«, wie man so sagt, und ihm mit bloßen Händen das Genick brechen. Ich erinnere mich an das Reh, das wir damals im Acker gefunden haben, angefahren vom Auto. Ich vergesse niemals die Todesangst in seinen Augen. Langsam dämmert wohl auch Flo und Lukas, was Heiner vorhat. Lukas grinst listig, aber Flo schluckt. Er fand das Reh im Todeskampf noch schlimmer als ich.
»Äh, Heiner?«, hebt Flo zaghaft die Hand. »Was machen wir jetzt eigentlich?«
»Das ist doch ein Männertag, oder?«, sagt Heiner. Flo nickt ängstlich. Heiner spitzt nun die andere Seite des Pfeils an.
Die andere Seite? Wieso das? Ein Pfeil braucht doch keine Doppelspitze.
Flo hat die Kerbe fertig geschnitzt. Heiner nimmt das Brett und legt es auf den Boden. Dann dreht er den Pfeil in die Kordel des Bogens ein und hält den Bogen waagerecht über das Brett, sodass der Pfeil in der Kerbe kratzen kann. Es ist also gar kein Pfeil.
»Das nennt sich Spindel«, sagt Heiner, als hätte er meine Gedanken gelesen. Er zieht einen flachen Stein aus der Tasche und drückt ihn mit der linken Hand auf die Oberseite der Spindel, sodass ihr anderes Ende mit viel Druck in die Kerbe gepresst wird.
»Warte mal«, sagt Flo, »ich glaube, ich kapiere das. Wenn du jetzt mit der rechten Hand den Bogen hin- und herbewegst, dreht sich das spitze Hölzchen …«
»… das Spindel heißt, wie ich eben sagte …«
»… ja, also die Spindel dreht sich in der Kordel und die untere Spitze reibt superschnell am weichen Holz.«
»Gut erkannt«, sagt Heiner. »Ich zeige euch jetzt etwas, was selbst die männlichsten Männer nicht mehr beherrschen, obwohl es der Anfang von allem ist. Ich bohre jetzt Feuer.«
»So was kannst du?«, fragt Lukas und mir fallen innerlich Steine vom Herzen, dass ich heute Abend doch keinem halb abgestochenem Reh mehr als Erlösung den Hals brechen muss.
»Du fragst das so, als wenn es absurd wäre, das zu können, Lukas.«
»Na ja …«
»Also Jungs, ich finde es absurder, wenn jemand in zwei Sekunden eine SMS mit 100 Zeichen tippen kann. Oder vor der Jury von Dieter Bohlen als Supertalent Beethoven furzen.«
Wir lachen.
»Du hast doch schon eine Freundin, Lukas. Was meinst du, was sie beeindruckender findet? Eine SMS in zwei Sekunden oder Feuer machen ohne technische Hilfsmittel?« Heiner hebt die Stimme. »Harter Stock auf weichem Holz. Das ist das Prinzip. Ich kann natürlich auch einfach so Holz auf Holz reiben, aber das klappt nur bei uralten Polynesiern, die den ganzen Tag nichts anderes machen. Mit diesem Spindelprinzip hier kriege ich mehr Reibung. Finn, leg mal unseren Zunder vorsichtig neben die Kerbe. Danke. Gleich entstehen in der Kerbe kleine Späne. Die entzünden sich als Erstes. Diese Glut muss dann unsere trockenen Nadeln und Zapfenstücke anfachen. Da heißt es: vorsichtig pusten. Also: Ich drehe, ihr beobachtet, wann es anfängt zu glühen. Dann blast ihr ganz sachte, bis der Funke aus den Spänen auf unseren Zunder überspringt.«
»Das klappt doch nie«, sagt Lukas. »Unser Sportlehrer schreibt gerade ein Buch darüber, sich wie in der Steinzeit zu bewegen. Aber von Feuerbohren hat nicht mal er was gesagt. Und der hat’s wirklich drauf.«
Heiner hebt die Hand. Er atmet tief und zieht beim Ausatmen ein unsichtbares Rollo aus Stille herunter. Wir schweigen. Im Unterholz raschelt ein Igel.
»Feuer«, spricht Heiner langsam in die Ruhe hinein und beginnt nun, den Bogen hin- und herzubewegen, sodass die Spindel im Holz reibt, »ist wie ein scheues Tier. Es ist immer da, überall um dich herum. Aber um es anzulocken, braucht man Geduld. Viel, viel Geduld. Es beobachtet dich, während du das Holz reibst, und es spürt deine innere Unruhe
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