Finns Welt - 02 - Finn reloaded
am Nürburgring. Eine Amsel singt. Im Vorgarten der Lindners nimmt sich Alex eine leere Gießkanne und versucht, sie Venja auf den Kopf zu schmettern. Sie weicht aus und rammt ihn mit der Schulter ins Gras. Da biegt der Pick-up um die Ecke und kommt vor dem Klapptisch zum Stehen. Die Ladefläche ist tatsächlich mit den Ästen und Stämmen für das Baumhaus beladen. Heiner steigt aus und lässt die Ohren hängen wie ein Beagle. Sophia geht auf ihn zu und berührt seine Wange.
»Die Rohre sind im ganzen Haus geplatzt. Quer durch die Stockwerke«, sagt Heiner. »Meine Wohnung stand vollständig unter Wasser. Die Feuerwehr hat sie mittlerweile ausgepumpt, aber das Rohrsystem muss im ganzen Haus erneuert werden. Sie öffnen sämtliche Wände. Die Renovierung dauert mindestens drei Monate.«
Venja windet Alex die Gießkanne aus der Hand und hebt sie mit beiden Händen an. In ein paar Sekunden wird sie ihren am Boden liegenden Bruder damit zerschmettern wie Herkules einen Gegner mit einem Felsbrocken. Flo schaut an Heiner vorbei ins Auto. Auf dem Beifahrersitz steht eine riesige Reisetasche.
»Ich kann zu einem Freund ziehen. Er lebt fünfzig Kilometer von hier und hat sein Schlafsofa schon frei gemacht.« Sophia streichelt mit dem Daumen die Rückseite von Heiners linker Hand. Er zeigt mit der rechten auf die Äste und Stämme und sagt: »Es ist nur so: Ich habe hier eigentlich ein Baumhaus zu bauen.« Jetzt setzt Heiner auch den Blick eines Beagles auf.
Flo starrt seine Mutter an. Am liebsten würde er laut brüllen: »Der Mann hat seine Wohnung unter Wasser und ist trotzdem in den Wald zurückgefahren, um das Holz für das Baumhaus zu holen. Nun sag schon, dass er bei uns wohnen kann!«
Jeder denkt das gerade.
Ich sehe es allen an.
Aber jeder weiß auch: Man darf Sophia zu nichts drängen. Sie ist wie eine scheue Schnecke. Hetzt man sie, zieht sie das Köpfchen in ihr Haus und kommt nicht mehr raus.
Sie sieht Heiner in die Augen.
Ihr Blick spricht Bände.
Ihr Blick spricht Bibeln.
Ihr Blick spricht alle Artikel von Wikipedia in einer Sekunde. Wenn man ihn lesen kann, sieht man darin ein ganz spezielles Sophia-Wiki. Und da steht: »Ich habe Angst, einen Mann in mein Haus einziehen zu lassen. Was, wenn ich wieder die Geduld verliere, wie früher? Bloß, weil Socken rumliegen oder der Klodeckel offen ist?« Das alles kann man in Sophias Augen lesen. Alle warten auf ihre Antwort. Sogar Venja bleibt starr stehen, die Gießkanne über ihrem Bruder. Man könnte jetzt die Musik einspielen, die bei DSDS läuft, bis endlich einer sagt, wer gewonnen hat. Dieses nervige Gebrumme.
Nach einer Ewigkeit sagt Sophia: »Nimm deine Tasche aus dem Auto, mein Baumhausarchitekt.«
»Jaaa!!!«, jubelt Flo und fällt Heiner um den Hals. Besser gesagt: um die Brust. Venja löst sich aus ihrer Zeitlupe und rammt die Gießkanne nun endlich auf Alex’ kleinen Schädel. Alle heben die Kaffeetassen wie feiernde Piraten ihre Bierkrüge. Heiner küsst Sophia und flüstert ihr leise seinen Dank ins Ohr.
DAS TELEFONAT
Heute um Mitternacht hat Sophia Geburtstag und Heiners Plan tritt in Kraft. Alle sind eingeweiht. Meine Eltern haben Sophia zu sich zum Tee gelockt. Der Dampf aus der Tasse tanzt vor Sophias Augen. Mein Vater zeigt ihr seinen neuesten Auftrag. Eine Familienchronik, gedruckt auf schwerem Pergamentpapier und gebunden in echtes Leder. Sie ist so groß wie die riesigen Bücher, die Zauberer in Fantasyfilmen aufschlagen, nachdem sie den Staub vom Deckel gepustet haben. Sophia streicht über den Einband. Alle anderen bereiten drüben im Garten die Party vor. Vivien ist auch gekommen. Sie hängt mit Lukas die chinesischen Lampions auf. Sophia glaubt, dass heute nichts passiert und Heiner an der Hotelbar arbeiten muss.
»Er hat sich für morgen freigenommen«, sagt sie und schaut zwischen den Pfefferminzdämpfen verträumt meine Eltern an. »Heiner wohnt jetzt seit einer Woche bei mir. Sabine, Klaus, ich sage es euch: Nicht ein einziges Mal stand in der Zeit der Klodeckel offen! Ich habe nirgendwo eine hingeworfene Socke gefunden. Und kein lautes Wort. Der Mann hat immer gute Laune. Selbst wenn er erst um vier Uhr morgens aus dem Hotel kommt, macht er um zehn Uhr Frühstück für mich. Mit selbst gebackenem Brot. Könnt ihr euch so was vorstellen? Selbst gebackenes Brot? Ich rieche schon im Bett, wie es duftet und tue dann so, als würde ich noch schlafen, weil es so schön ist.«
Es klopft. Ich gehe zur Tür und tue so, als sei
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