Finster
Eileen an. Ich hoffte, dass ich nur den Anrufbeantworter erreichen würde, aber sie nahm ab.
»Ich bin’s«, sagte ich.
»Hi.«
»Wegen des Essens heut Abend …«
»Ja?«
»Leider hat Kirkus sich eingeladen.«
»Kirkus? Das soll wohl ein Witz sein.«
»Es ist eine Art Erpressung. Ich habe mit ihm kurz über Mittwochnacht geredet, und er hat versprochen, den Mund zu halten. Als Gegenleistung wollte er zum Essen kommen.«
»Wow. Vielleicht steht er wirklich auf dich.«
»Oder er will einfach nur ein kostenloses Abendessen.«
»Tja, du hast mich gerade noch rechtzeitig erwischt. Ich
wollte in diesem Augenblick einkaufen gehen. Dann besorg ich ein bisschen mehr.«
»Es tut mir echt leid.«
»Mach dir keine Gedanken. Es ist ja nicht deine Schuld, dass er dich unwiderstehlich findet.«
»Sehr witzig.«
»Ich schätze, er und ich werden um deine Aufmerksamkeit ringen.«
»Das wird ein ungleicher Kampf«, sagte ich.
»Trotzdem werde ich mich entsprechend anziehen.«
Ihre Worte zeigten Wirkung. Sie regten meine Fantasie an, und mein Körper reagierte.
»Was stellst du dir denn so vor?«
»Wart es einfach ab. Ich sollte jetzt besser los. Wir sehen uns gegen fünf.«
»Bis dann.«
Kirkus hin oder her, plötzlich konnte ich kaum erwarten, dass es endlich fünf wurde.
Gegen vier hatte ich geduscht und mich umgezogen. Ich saß am Küchentisch, las Chaucer und hatte mich beinahe komplett durch den »Prolog zur Erzählung der Frau aus Bath« gearbeitet, als es an der Tür klingelte.
Ich legte ein Lesezeichen ins Buch und sah auf meine Armbanduhr. Halb fünf.
»Wer ist da?«, fragte ich an der Gegensprechanlage.
»Ein intellektuell und moralisch Überlegener.«
»Unmöglich«, sagte ich.
»Mach auf, alter Knabe.«
Schön, dass Kirkus eine halbe Stunde zu früh kam.
Ich drückte ihm auf. Dann stand ich genervt da und wartete. Kurz darauf hörte ich Schritte auf dem Flur, aber ich öffnete die Tür erst, als es klopfte.
Er hatte sich umgezogen. Seine Jeans sah nagelneu aus. Statt des üblichen blauen Chambray-Hemds trug er ein weißes Hemd. Das Kordjackett hatte er gegen eine leichte braune Wildlederjacke getauscht. Er protzte nun mit einer königsblauen Fliege anstelle der mandarinenfarbenen Krawatte, die er in der Uni getragen hatte.
Er legte den Kopf zurück, lächelte und wippte auf den Fußballen. »Ich bin zu früh«, verkündete er.
»Kein Problem.«
»Und ich bringe ein Geschenk mit.« Er streckte mir eine Flasche Weißwein entgegen.
»Danke.« Ich nahm die Flasche und ließ ihn vorbei. »Komm rein und mach’s dir bequem.«
Er kam in meine Wohnung und sah sich um. »Die lockende Schöne ist noch nicht hier, oder?«
»Noch nicht. Möchtest du einen Schluck Wein?«
»Wir sollten ihn besser fürs Essen aufbewahren.«
»Eileen bringt was zu trinken mit. Ich kann die Flasche aufmachen, wenn du willst.«
»Wenn du meinst.« Er ging zu einem Fenster und sah hinaus. »Wie inspirierend, in derart unmittelbarer Kirchen-Nähe zu wohnen.«
»Dazu gehört auch ein hübscher kleiner Friedhof«, sagte ich, während ich mit der Flasche in die Küche ging. »Von hier aus kannst du ihn nicht sehen.« Beinahe hätte ich ihm erzählt, dass man von meinem Schlafzimmer aus einen guten Blick auf den Friedhof hatte, aber je weniger
in Kirkus’ Gegenwart von meinem Schlafzimmer gesprochen wurde, desto besser.
Während er weiter aus dem Fenster starrte, öffnete ich die Flasche. Ich nahm zwei Wassergläser und schenkte Wein ein. »Wie bist du an den Wein gekommen? Du bist doch noch keine einundzwanzig, oder?«
»Gewiss nicht. Und du?«
»Nächstes Jahr.«
»Warum sollte ich einundzwanzig sein, wenn du es nicht bist? Wir sind beide im ersten Studienjahr.«
»Vielleicht bist du in der vierten Klasse sitzengeblieben«, schlug ich vor und ging mit den Gläsern ins Wohnzimmer.
Er wandte sich vom Fenster ab und sah mich an. »In Wirklichkeit habe ich eine Klasse übersprungen .«
»Wow. Echt? Dann bist du erst neunzehn?«
»Ein reifer Neunzehnjähriger.«
»Wenn du es sagst.«
Er grinste mich an. »Um einiges reifer als du, möchte ich meinen.«
»Tja, Scheiße, du hast Recht. Ich besitze noch nicht mal eine Fliege.« Ich reichte ihm ein Glas. »Danke für den Wein«, sagte ich und trank einen Schluck. Er schmeckte nicht schlecht.
»Kein Toast?«, fragte er.
»Kein Toast, kein Speck, keine Eier.«
»Und wenig oder kein Witz.«
Ich musste beinahe lachen, aber ich wollte ihm nicht die Befriedigung
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