Finsteres Verlangen
als wäre der Kopf tatsächlich vor mir und nicht Tausende Kilometer weit weg. Und mein Schrei bekam Begleitung. Nathaniel fauchte mich aus dem Fußraum an und bleckte das Gebiss, während ihm zwei lange Reißzähne wuchsen. Caleb war zwischen die Rückenlehnen gekrochen und hatte gelbe Katzenaugen bekommen. Er rieb die Wange an meiner Schulter und markierte mich mit seinem Geruch, dann hielt er inne und fauchte, als hätte er das Phantom an mir berührt.
Jason stieß ein tiefes, haarsträubendes Knurren aus, das nicht mit Jagen und Fressen, sondern mit Kämpfen und Überleben zu tun hatte. Es war das Knurren, mit dem Territorien verteidigt, Eindringlinge und Störenfriede vertrieben wurden. Es hieß: Verzieh dich oder stirb.
Sie brüllte ebenfalls, und dieser Klang ließ mir das Blut in den Adern stocken und erinnerte mich an meine Vorfahren, als sie sich bei Dunkelheit noch um ein kleines Feuer kauerten und voller Angst nach leuchtenden Augenpaaren Ausschau hielten. Aber ich dachte nicht wie ein Mensch. Ich war nicht einmal sicher, ob es als Denken zu bezeichnen war, was in meinem Kopf passierte. Ich war vielmehr mit allen Sinnen dem Augenblick verhaftet, fühlte den Ledersitz an meinem Körper, Nathaniel zwischen meinen Knien, seine Hände, die an mir hinaufwanderten, Caleb an meiner Schulter, seine Wange an meinem Gesicht, seine Kieferbewegung beim Fauchen, Jasons Hand an meinem Arm, als hätte er dort Wurzeln geschlagen und sei mit mir verwachsen.
Ich roch Calebs Haut, die Seife, die er am Morgen benutzt hatte, und die Angst, die dem sauberen Hautgeruch eine bittere Note gab. Nathaniel richtete sich kniend auf, sodass sein Gesicht von dem Tierkopf mit den Säbelzähnen überlagert wurde. Ich roch den Vanilleduft seiner Haare, aber nichts von dem Phantom.
Jason rückte an mich heran, kam mit der Nase nah an mein Gesicht und schnupperte. Ich roch Seife, Shampoo und Jasons Eigengeruch, der inzwischen heimelig auf mich wirkte, ungefähr wie Nathaniels Vanille und Jean-Claudes teures Rasierwasser und wie früher auch der Duft in Richards Halsbeuge. Es wirkte nicht erotisch auf mich, sondern roch nach Zuhause wie frisch gebackenes Brot oder die Plätzchen einer Mutter und gab ein Gefühl von Geborgenheit. Ich drehte den Kopf zu Caleb, sodass ich mit der Nase an ihn stieß, und unter der Angst, der Seife, der weichen Haut roch er nach Leopard – ein Geruch, bei dem man die Nase rümpfte und schauderte. Ich richtete meine Wahrnehmung auf das Phantom an meiner Brust, das sich an das noch leuchtende Kreuz drückte, und blickte in diese gelben Augen und auf die Säbelzähne, die heutzutage kein Tier mehr hatte, und es hatte keinen Geruch.
Jason schnupperte. Seine hellen Wolfsaugen sahen mich an, und ich wusste, dass er es auch erkannt hatte.
Als Vampir roch sie nach Sommerabend und Süßwasser, das leicht nach Jasmin schmeckte. Als Wertier hatte sie keinen Geruch, weil sie nicht wirklich hier war. Es war nur eine Vision, die sie gesandt hatte. Das Bild war mit Kräften ausgestattet, war aber nichts Echtes, nichts Wirkliches, nichts Physisches. Egal wie viel Macht man hineinlegt, eine Vision hat ihre Grenzen, was physikalische Wirkungen angeht. Sie kann erschrecken, sodass man vor ein Auto läuft, aber sie kann niemanden schubsen. Sie kann zu Handlungen verleiten, aber nicht ohne einen Mittler Verletzungen zufügen. Solange sie Vampir war, hielten das Kreuz und mein Glaube sie in Schach, und als Wertier war sie unwirklich.
Nathaniel war durch die Vision auf meinen Schoß gekrochen. Und er war es, der es laut aussprach: »Es hat keinen Geruch.«
»Es ist nichts Wirkliches«, sagte ich.
Calebs Stimme war von einem tiefen Knurren begleitet. »Ich spüre es. Es ist eine Raubkatze, die uns ein bisschen ähnelt.«
»Aber riechst du sie denn?«, fragte Jason.
Caleb schnupperte an meinem Oberkörper entlang. Bei jeder anderen Gelegenheit hätte ich ihn beschuldigt, sich meinen Brüsten nähern zu wollen, aber nicht jetzt. Er war dabei so ernst wie nie und stieß die Nase in das Phantomgesicht. Er stockte, blickte aus nächster Nähe in die gelben Augen und fauchte wie eine erschrockene Katze. »Ich kann es nicht riechen, nur sehen.«
»Man muss nicht immer alles glauben, was man sieht«, meinte ich.
»Was ist es?«, fragte er.
»Eine übersinnliche Projektion, eine Vision, die uns geschickt wurde. Der Vampir konnte an dem Kreuz nicht vorbei und probiert es anders, aber das Kätzchen ist nicht sonderlich wirksam.«
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