Fire - Thriller
Ihren Tiger nicht aus den Augen verloren«, beruhigte mich Adanne, während wir die Straße entlangschlenderten. »Hier findet er seine Rekruten leicht.«
»Sie haben nicht übertrieben, als Sie die schreckliche Situation hier beschrieben haben, Adanne«, musste ich zugeben.
Ich wollte unbedingt mit Menschen in so vielen Sektoren des Lagers sprechen wie möglich, doch als wir eins der wenigen Zelte für die medizinische Versorgung erreichten, musste ich wieder eine Pause einlegen. Noch nie in meinem Leben hatte mich etwas so schockiert.
Das Zelt quoll über mit kranken und sterbenden Patienten, von denen immer mindestens zwei auf einer Pritsche lagen. Wie bei einem Puzzlespiel waren sie in jeden verfügbaren Platz gequetscht worden. Schlimmer wurde die Sache noch durch die langen Schlangen, die sich vor dem Zelt gebildet hatten: Mindestens dreihundert schwerkranke Frauen und Kinder warteten auf ihre Behandlung oder auf einen besseren Platz zum Sterben.
»Leider lässt sich nur wenig tun, um ihr Leiden zu stoppen«, erzählte Adanne. »Medikamente sind rar, viele davon werden gestohlen, bevor sie überhaupt hier eintreffen. Die Menschen sterben an Hunger, Lungenentzündungen und Malaria. Selbst Durchfall kann tödlich sein, und angesichts der Probleme mit der Wasserversorgung und der Hygiene ist kein Ende in Sicht.«
Ich sah einen Arzt und zwei freiwillige Krankenschwestern. Mehr nicht. Das gesamte Krankenhauspersonal für Tausende sehr kranker Menschen.
»Dies wird die ›zweite Phase der Krise‹ genannt«, fuhr Adanne fort. »Im Lager sterben mehr Menschen als außerhalb. Tausende. Jeden Tag. Ich habe Ihnen gesagt, es sei erschreckend.«
»Sie haben untertrieben«, stellte ich fest. »Das hier ist unvorstellbar.«
Ich kniete neben einem kleinen Mädchen nieder, das in einem der wenigen Betten lag. Ihre milchigen Augen wirkten unecht. Ich vertrieb einige summende schwarze Fliegen, die an ihrem Ohr hingen.
»Wie sagt man bei euch für ›Gott sei mit dir‹«, fragte ich Emmanuel.
» Allah ma’ak «, antwortete er.
Ich wiederholte die Worte für das Mädchen, obwohl ich nicht wusste, ob es mich verstand. » Allah ma’ak .«
Irgendwo auf dem Weg durch dieses Lager hatte ich die Ermittlungen zu den furchtbaren Morden vergessen und eine Welt betreten, in der ein unglaubliches Massensterben stattfand. Wie war so etwas in unserer Welt möglich? Wie konnten täglich Tausende Menschen auf diese Weise sterben?
Adanne legte eine Hand auf meine Schulter. »Alex? Sind Sie soweit? Wir sollten weitergehen. Sie sind wegen Tiger hier, nicht wegen dem hier. Gegen das hier können Sie nichts unternehmen.«
Ich hörte ihrer Stimme an, dass sie dieses Elend bereits gesehen hatte. Wahrscheinlich mehrmals.
»Noch nicht«, antwortete ich. »Was muss hier denn getan werden?«
Emmanuels rasche Antwort entsprach nicht dem, was ich erwartet hatte.
»Kommt darauf an. Kann einer von euch beiden mit einem Gewehr umgehen?«
84
Adanne erklärte, was Emmanuel mit seiner Antwort ausdrücken wollte, dass nämlich allein das Brennholzsammeln eine der gefährlichsten Angelegenheiten in Kalma war.
Janjaweed-Patrouillen waren ständig in der Wüste unweit des Lagers unterwegs. Jeder, der sich hinauswagte, ging das Risiko ein, vergewaltigt oder erschossen zu werden –, wenn er Pech hatte beides. Die Holzsammlerinnen, verzweifelte Frauen und ihre Kinder, waren auf den Begleitschutz der Soldaten der Afrikanischen Union angewiesen, die aber nicht immer zur Verfügung standen. Daher waren die Frauen gezwungen, ihr Glück allein zu versuchen. Kein Brennholz zu haben, bedeutete, die Familie nicht versorgen zu können.
Emmanuel reichte mir eine ältere M16, die nachträglich mit einem ganz ordentlichen Zielfernrohr ausgestattet worden war.
»Zögern Sie nicht abzudrücken«, wies er mich an. »Weil sich die Janjaweed auf keinen Fall zurückhalten werden. Sie sind geschickte Krieger, auch wenn sie auf Pferden oder Kamelen reiten.«
»Ich werde nicht zögern«, versprach ich und spürte kurz, wie Adanne meinen Ellbogen umfasste.
»Sind Sie sicher, dass Sie das tun wollen, Alex?«, fragte sie. »Möchten Sie sich auf so etwas einlassen?«
»Ich bin mir sicher.«
Etwa eine Stunde später brachen wir mit einer Gruppe aus zwei Dutzend unerschrockenen Holzsammlerinnen auf.
Einige Frauen trugen ihre Babys in Tüchern auf dem Rücken. Eine hatte einen Esel mit einem Karren mitgebracht, um das Holz zu transportieren.
Dies hier musste ich
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