Firkin 01 - Der Appendix des Zauberers
-gläubige und -schützer sie wahrgenommen und beobachtet: jene Kräfte, die die Welt umtreiben. Sie haben ihnen Namen gegeben, haben sie ›Schicksal‹ genannt oder ›Los‹, oder ›Hormonhaushalt‹. Sie haben sie nach Gruppen und Klassen geordnet und Differenzierungsmöglichkeiten geschaffen: ›Erkannte und genutzte Chance‹ versus ›Massel‹, ›Déjà vu‹ versus ›Zufall‹, ›Testosteron‹ versus ›nackte Lust‹. Und manchmal, wenn auch nur in sehr seltenen Fällen, haben sie jenes Gespinst aus Wirkungen und Konsequenzen sogar erkannt, in das diese Kräfte ihre ahnungslosen Opfer verstricken. Doch eines ist ihnen, selbst wenn sie sich noch so sehr bemühten (einige von ihnen hatten dafür sogar Forschungsaufträge vom SERC [xv] erhalten) – eines ist ihnen nie gelungen: diese Kräfte wirklich zu verstehen.
Wenn auch manche Menschen das Wirken dieser Kräfte eindringlicher erfahren als andere, so spürt sie doch ein jeder von uns von Zeit zu Zeit.
Es sind dies die Kräfte, die den Lachs antreiben, gewaltige Strecken in den Flüssen Schottlands stromaufwärts zu schwimmen, um sich zu paaren und dann zu sterben. Es sind die Kräfte, die Kindern, die kaum den Windeln entwachsen sind, die musikalischen Fähigkeiten verleihen, unvergängliche Symphonien zu komponieren. Es sind die Kräfte, die einen Schwächling in einen verwegenen, romantischen Helden verwandeln und ihn mit solcher Kühnheit begaben, daß er durch Schloßgräben schwimmt, in denen es von Piranhas wimmelt, daß er Schloßmauern erklimmt, die Schloßwachen bezwingt und erst dann wieder flieht, wenn er der sehnsüchtig wartenden Jungfer die dunkelblaue Schachtel mit Konfekt überreicht hat.
Es waren diese Kräfte, die jetzt auf einen von den dreien einwirkten, die unerlaubt in das Schloß eingedrungen waren. Nicht zum erstenmal. Er hatte ihr Wirken schon manchesmal erfahren. Es mußte – davon war er überzeugt – irgend etwas mit der ganz eigenen Natur von Schlössern zu tun haben. Möglicherweise mit der Art, wie die Mauersteine zu mächtigen hohen Türmen aufgeschichtet waren, zu himmelstürmenden, weithin sichtbaren Verherrlichungen menschlicher Schöpferkraft. Eine nervöse Unruhe hatte ihn erfaßt. Und als er dann in dem Geheimgang, der unter dem Schloßgraben hindurchführte, um die letzte Kehre bog und durch die Holztür in die Küche eintrat, schossen ihm Bilder von hohen Türmen und engen Wendeltreppen durch den Kopf. Visionen von stabilen Holztüren, die unter den wuchtigen Stößen einer eisengepanzerten Schulter zu Bruch gingen. Bilder von spärlich bekleideten Jungfern und Maiden in Bedrängnis, die hohe, spitze, schleierbesetzte Hüte trugen; deren Busen heftig wogte, in deren Gesicht ein Ausdruck lauterster Dankbarkeit stand und – eine winzige Spur ewig unerfüllter Sehnsucht und heftiger sinnlicher Begierde.
Ouuh Mann, dachte Pezzi, nich schon wieda …
Sie sollte wirklich einmal einen Blick ins Wörterbuch werfen! dachte Arbutus, nachdem ihn Courgette zum n-ten Mal mit dem Prädikat ›hübsch‹ bedacht hatte. Wobei n eine große und außerordentlich positive Zahl ist.
Courgette saß auf dem riesigen Küchentisch aus Eichenholz und baumelte mit den Beinen. Firkin und Hogshead warteten in der leeren Küche nervös auf die Ankunft ihrer Begleiter. Arbutus drehte den Kopf um annähernd 360 Grad und überlegte noch einmal, wie er am besten und ohne allzuviel Federlesens Courgette ein Ohr abtrennen könnte. Nur für den Fall, daß… Er war gern auf alle Eventualitäten vorbereitet.
»Wo bist du, mein Vater, da ich dich brauche?« deklamierte Courgette schwülstig und seufzte (reine Effekthascherei!).
»Wo sind eigentlich die anderen alle?« fragte Hogshead.
Courgette sah auf.
»Welche anderen?«
»Na ja, das… das Küchenpersonal eben«, verdeutlichte Firkin, der sich da auskannte. Er wußte es von Franck.
»Welches Küchenpersonal?«
»Na, die Tellerwäscher, die Konditormeister, die Fleischer, die…«, zählte Hogshead auf.
»Wovon redet ihr eigentlich?« Courgette verstand kein Wort.
Arbutus verdrehte die Augen und machte laut und deutlich Pfff!
»Du bist doch nicht zum erstenmal in dieser Küche, oder?« fragte Firkin.
»Natürlich nicht! Mein Vater ist doch der Küchenchef«, antwortete sie. »Chefkoch des Königs!« ergänzte sie stolz.
»… und was ist mit den anderen Leuten?«
»Selbstverständlich! Für die kocht er auch. Für alle.« Courgette kitzelte Arbutus. An einer Stelle, wo
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