Firkin 05 - Fahrenheit 666
wär’s mal mit der Wahrheit? Genau das ist es! Erzähl ihm einfach die Wahrheit, und er frißt dir aus der Hand.
Er atmete tief durch, konzentrierte sich angestrengt auf den Rattentrick und versuchte verzweifelt herauszufinden, wie dieser funktionierte. Wahrheit! Unwillkürlich zuckte er zusammen. Keine leichte Aufgabe. Jahrelange Vernachlässigung hatten sein Gehirn an der altehrwürdigen ›Wahrheitsfront‹ ziemlich einrosten lassen.
»Du bist hier weil …« Ratten! »Nun, also wegen …« Ratten! »… deiner Gedanken im Kopf«, flüsterte Flagit mit zusammengebissenen Zähnen und zugekniffenen Augen und fügte zur Verdeutlichung hinzu: »Im Grunde geht es um das Buch.« Dann hielt er den Atem an und stellte sich innerlich auf die entrüsteten Proteste ein.
Doch zu seinem Erstaunen blieb die von ihm erwartete Wirkung aus.
Tatsächlich bestand der ehemalige Pfarrer Götz von Öl der Dritte nicht mehr auf seiner Forderung, irgendeinen Verantwortlichen sehen zu wollen, und das war nach Flagits Dafürhalten eindeutig eine Verbesserung. Dennoch hatte er nicht eine solche Woge des Selbstmitleids erwartet, wie sie nun ungehemmt aus dem Geistlichen herausströmte.
»Ich habe doch nur darüber nachgedacht«, jammerte Götz, »aber niemals im Ernst daran geglaubt, daß … Also, ich habe lediglich etwas darüber gelesen, aber nicht gewußt, daß das schon ins Gewicht fällt. Wirklich nicht … Sicher, dann habe ich eben eine lebhafte Phantasie, und ich gebe auch zu, daß ich mir vorstellen konnte, wie die betörenden Nymphen auf ungesattelten Poloponys umhergeritten sind, aber das alles war doch nichts als ein völlig harmloser Spaß! Besonders gut konnte ich mir vorstellen, wie danach beim Duschen das schäumende Wasser in kleinen Bächlein an ihren straffen und jungen Körpern hinunterrann und … nun ja …«
Flagit starrte den Expfarrer verdutzt an. Als er es das letzte Mal mit der Wahrheit versucht hatte, war längst nicht alles so verwirrend gewesen. Sicher, das lag mittlerweile einige Jahrhunderte zurück, aber trotzdem. Er schüttelte den Kopf und versuchte, einen anderen Weg einzuschlagen.
»Hör mal, was genau hat sich eigentlich mit diesen ganzen Ratten abgespielt?« fragte er zurückhaltend.
Götz schüttelte beschämt den Kopf und wurde noch röter, als würden betörende Nymphen verführerisch mit klatschenden Schenkeln und knallenden Peitschen auf dem bloßen Rücken der Ponys über die saftigen Weide seiner Gedanken galoppieren.
Unzählige Farbtöne vermengten sich vor Gravurs Augen, als er mit dem Mop durch das bunte Meer fuhr, ihn hochhob und im bereitgestellten Eimer auswrang.
Für ihn stand fest, daß Alea ein kleiner Teufel war. Es verging keine Woche, ohne daß von ihr etwas zerschmettert, zerbrochen, zerstört oder sonst was wurde … Und dennoch hatte das manchmal durchaus wunderbar inspirierende Folgen.
Flüstert man ganz beiläufig das Wort ›Inspiration‹ jemandem ins Ohr, kann man sicher sein, daß bei dem Betreffen das mentale Abbild einer riesigen 40-Watt-Glühbirne entsteht oder ein in die Jahre gekommener Mathematiker nachmittags plötzlich aus einem griechischen Bad aufbricht, nackend über die Straße läuft und ›Heureka!‹ ruft. Wohingegen es eher unwahrscheinlich ist, daß das Wort ›Inspiration‹ Gedanken an geschwollene und vor Schmerz pochende Zehen hervorruft oder gar an ein abgelegtes Kettenhemd, ein verbeultes Kehrblech und einen Besen.
Tatsächlich war er wohl der einzige Mensch, dessen Verstand solche Vorstellungskraft besaß – Gravur, seines Zeichens Eigentümer des mehr oder weniger erfolgreichen und namenhaften ›Steinpyramiden-, Grabstein- und Andenkenkaufhauses‹.
Unwillkürlich mußte er lächeln, als er sich jetzt daran erinnerte, wie er einst an einem ereignislosen Abend im Schein einer tropfenden Kerze gerade die letzten Buchstaben auf eine riesige polierte Platte aus Talpinschiefer hinzugefügt hatte. Drei Dutzend Schläge mit seinem Lieblingsmeißel – und siehe da, es war geschafft! Acht geballte Tage lang schlagen und feilen, um tausend Wörter etwa einen viertel Daumennagel tief in die Druckplatte perfekt hineinzumeißeln. Er grinste. Es hätte einer seiner schönsten Grabsteine werden können, wenn die ganzen Buchstaben nicht spiegelverkehrt herum gewesen wären und sich in der unteren rechten Ecke keine Seitenzahl befunden hätte. Er hatte eine ganze Weile gebraucht, um sich daran zu gewöhnen, rückwärts zu schnitzen – das S war
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