Firkin 05 - Fahrenheit 666
am schwersten in den Griff zu bekommen – aber an diesem Abend, etwa vier Monate nachdem es ihm sogar gelungen war, die Widrigkeiten eines spiegelverkehrten Und-Zeichens zu beherrschen, sich in die Druckergilde einzukaufen und sich als Herausgeber ganzer Wälzer zu etablieren, da konnte er alles schnitzen.
Umrandungen mit verschlungenen Engelsabbildungen, herumtollenden Putten oder mit Seraphim zu verschnörkeln, nun, alles kein Problem, auf Wunsch erledigte er heutzutage alles mit links. Diese Platte, die ihn acht Tage Arbeit gekostet hatte, mußte er nur noch drüben in die Druckpresse legen, mit einer Schicht weißer Tusche versehen, um dann so viele schwarze Pergamentbögen wie möglich draufzupressen. Noch immer staunte er darüber, daß die weißen Buchstaben wie durch ein Wunder auf der schwarzen Oberfläche Gestalt annahmen. Wenn die Herstellung jeder einzelnen Schieferplatte nur nicht so lange dauern würde.
Zufrieden lächelnd schob er den Stuhl zurück und stand auf. Gerade als er im Begriff war, sein Meisterstück zur Presse hinüberzuschleppen, nahm die Katastrophe ihren Lauf.
Wie man weiß, gibt es viele Formen von Katastrophen: Erdbeben, Überschwemmungen und so weiter und so fort. Doch diese hier war erst ganze neun Jahre alt und trug ein leuchtendrotes Nachthemd, das etwas unschicklich hinter das Gummiband des Schlüpfers gesteckt war. Pfeifend und johlend stürzte sie an einem Seil vom Dachboden herab und landete mit einem kräftigen Knall auf der Oberseite eines in der Nähe stehenden Schranks. Gravur schrie schon, noch bevor die Druckplatte durch die heftige Erschütterung krachend zu Boden fiel und in tausend wertlose Stücke zerbrach, wobei sie einen Stuhl und ein Kettenhemd mit sich riß und mit einem fürchterlichen Schlag direkt auf dem großen Zeh landete.
Der dabei aufgewirbelte Staub legte sich schneller als der laute Wortschwall blasphemisch geprägter Verwünschungen, der durch die Werkstatt widerhallte.
In diesem Moment wäre er am liebsten schreiend durch das in seiner kleinen Werkstatt angerichtete Chaos gelaufen und mit der Axt in der Hand einer gewissen Neunjährigen hinterhergejagt, wenn sich diese nicht rechtzeitig in ihr Lieblingsversteck, den Schrank unter der Treppe, verkrochen hätte.
Eine gute Dreiviertelstunde des Fluchens später – der Zeh pochte noch immer vor quälenden Schmerzen, und sein Haar war völlig verstaubt – rang sich Gravur zu der Einsicht durch, daß sich die Schieferplatte nicht von selbst wiederherstellen würde. Also griff er sich Kehrblech und Besen, fluchte noch einmal herzergreifend und nahm den auf dem Boden liegenden Steinbruch aus Buchstaben in Angriff. Als er gerade eine gute halbe Schaufel wegräumt hatte, hielt er mit herunterhängender Kinnlade erstaunt inne.
Plötzlich entdeckte er nämlich sechs winzige Schieferfragmente, die sich irgendwie in den Ellenbogen des Kettenhemdes verfangen hatten, und er stand kurz vor einer Eingebung. Er rieb sich verwirrt die Augen und sah genauer nach. Sie waren noch immer da, sechs Schriftzeichen, die fröhlich das Grußwort ›!ollaH‹, buchstabierten – ein Wort also, das für jeden, der sich gerade über eine Woche lang einzig und allein darauf konzentriert hatte, tausend Wörter zu lithographieren, sofort als ›Hallo!‹ zu entziffern war. Zitternd streckte er die rechte Hand aus und griff nach dem ›H‹, zog es aus den Gliedern des Kettenhemdes heraus und schob es wieder zurück. Ihm entfuhr ein erstauntes Piepsen, als er dasselbe mit dem ›a‹ und den anderen Buchstaben tat. Innerhalb weniger Sekunden hatte er das ›!‹ entfernt, griff sich eine Handvoll Buchstaben, klemmte sie in das Kettenhemd und erstellte die Mitteilung ›?s’theg iew, alloH‹. Schnell ein paar Kleckse weiße Tusche, ein paar Reste schwarzes Pergament, und Gravur hatte das erste jemals produzierte Exemplar eines Splitterdrucks, mit einem Kettenhemd als Setzkasten. Es dauerte nur einen Monat (drei Wochen davon durfte Alea ausschließlich Röcke tragen und mußte in der Öffentlichkeit seine Hand halten), und er hatte achtzehn komplette Sätze des Alphabets gemeißelt und das Kettenhemd in Stücke gerissen.
»Ist meine Bestellung jetzt endlich fertig?« zischte die Gestalt in dem langen Mantel mit dem blütenweißen Kragen, knallte die Tür des Druckerladens zu und riß Gravur aus seinen Träumen. Die Stimme klang irgendwie gereizt und gleichzeitig fromm und war offensichtlich eher darin geübt, Gespräche über
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