Firkin 1: Der Appendix des Zauberers
erzählen.«
»Bitte nicht!« bettelte Firkin. »Ich will lieber etwas Handfestes hören. Erzähl uns was … äh … so was wie … Ach, irgendwas, nur nichts mit Magie!«
Hogshead schüttelte ungläubig den Kopf. Franck war zwar ein guter Geschichtenerfinder, aber eine Geschichte ohne Zauberei war einfach langweilig. Ohne Zauberei geschah nichts Aufregendes. Nie.
»Und …«, fuhr Firkin fort. »Keine erfundene Geschichte. Die Wahrheit. Ich will Tatsachen. Fakten.«
Hogshead schnappte nach Luft.
»Fakten! Du lieber Himmel«, stöhnte Franck. »Fakten, hä? Soll das etwa heißen, Firkin wird erwachsen? Darf ich das so verstehen, daß meine Geschichten von Rittern, Magiern, Drachen und Jungfern nicht mehr erwünscht sind …«
»Nein! Äh, ich meine doch …«, fing Hogshead an.
»… daß das Garn, das ich gesponnen habe, dünn geworden …«
»Nein!« Hogshead hatte die Augen weit aufgerissen. Er liebte die großartigen Geschichten von Franck.
»… daß ich nicht länger mehr ein begierig lauschendes Publikum habe …?«
»Aber nein, Franck«, sagte Firkin. »Ich mag deine Geschichten. Ich will nur etwas, das ein bißchen… ein bißchen … also …«
»… realer ist«, beendete Franck.
»Genau«, nickte Firkin.
»Na gut, na gut«, seufzte Franck und gab sich geschlagen.
Die Jungen machten es sich gemütlich und warteten darauf, daß er zu erzählen anfinge.
»Was ihr jetzt hören werdet, ist ein Geheimnis. Niemand außer mir kennt die wahre Geschichte von der Hochzeit des Prinzen Chandoon.« Wäre es möglich gewesen, das Licht zu dämpfen, unheilvolle leise Musik erklingen und Nebelschwaden aus Trockeneis wabern zu lassen – jetzt wäre genau der richtige Zeitpunkt dafür gewesen. »Es ist dies eine merkwürdige Geschichte. Eine Geschichte von Abenteuern, Reichtum und Glück und – Schuhgrößen.«
Die Jungen saßen mit weitaufgerissenen Augen vor ihm. Franck hatte das Register gewechselt. Er sprach sein pseudohistorisches Kauderwelsch, und das war üblicherweise ein äußerst vielversprechendes Zeichen.
Franck starrte die Jungen einen Augenblick lang unbewegt an (er tat das nur, um die Spannung ein wenig zu steigern), holte dann tief Luft und sprach die legendären, altehrwürdigen Worten: »Es war einmal vor langer, langer Zeit …«
Laut hallten König Klayths Schritte durch den Korridor. Laut und leer.
Leer wie der Korridor selbst.
Leer wie die vielen anderen Korridore und meilenlangen Flure und Gänge in Schloß Isolon.
Nackte Steinfußböden verliefen zwischen endlos langen nackten Steinmauern. Kahle Fluchten, nur gelegentlich von einer Tür unterbrochen, die in ein leeres Zimmer führte; kahle Fluchten, nur gelegentlich von einem anderen Korridor gekreuzt, der wie alle anderen Korridore war: leer.
Das ganze Schloß war leer.
Seit er denken konnte, war das so.
Und doch mußte es einmal anders gewesen sein.
Ganz schwach erinnerte er sich an eine Zeit, als das Schloß voll Leben war, an eine Zeit, als mehr als dreieinhalbtausend Menschen hier gelebt hatten. Alle möglichen Menschen: vom ewig rußschwarzen kleinen Kaminkehrer über die Stubenmädchen, Köche, Kammerdiener bis hin zur kraftstrotzenden Formation der schwarz uniformierten Schloßwache.
Doch jetzt… Klayth stand in dem leeren Korridor und horchte. Stille. Tiefe, absolute Stille, greifbar wie Watte, drückend und lastend wie die Stille vor einem Gewitter an einem schwülen Sommertag. Es war so still, wie es damals, in jener wunderbaren Zeit, als er noch klein war, nie gewesen war, als selbst mitten in der Nacht das Leben niemals ganz verstummte. Wo mehr als dreieinhalbtausend Menschen lebten, war es nie totenstill. Irgendein Geräusch war immer zu hören: das leise, von einem parfümierten Kopfkissen sanft gedämpfte Atmen eines jungen Mädchens; die unruhigen Atemstöße eines Schläfers, der im Traum auf einem hohen Berg stand und gegen einen Drachen kämpfte; das Schnauben und Prusten des Kochs, der wie eine Dampfmaschine schnarchte … es war ein fortwährendes, nie endendes Summen und Brummen.
Tagsüber, wenn jedermann geschäftig seiner Arbeit nachging und eine der unzähligen Aufgaben erledigte, die für den reibungslosen Ablauf des Schloßbetriebs unverzichtbar waren – tagsüber herrschte ein ohrenbetäubender Lärm.
Der eindrucksvollste Trubel hatte wohl damals geherrscht, in den letzten Tage vor dem Krieg mit dem benachbarten Königreich Cranachan, als die Leute durcheinander- und zusammenliefen,
Weitere Kostenlose Bücher