Fischerkönig
Spielzeuge lagen, mit denen sich die Kleine augenblicklich befasste. Dann sagte sie: »Ich muss Ihnen etwas zeigen«, und verschwand im Flur. Sekunden später kehrte sie mit einem gefalteten Papier zurück und reichte es Heiko. Er nahm es und entfaltete es. Das Erste, was er sah, war ein Foto von Irina im kurzen Röckchen, auf dem sie schwer deutbar lächelte. »Das war vor drei Tagen bei allen Goldbachern im Briefkasten«, erläuterte Irina. Heiko hielt den Zettel so, dass Lisa auch mitlesen konnte. Und das, was da stand, was tatsächlich schockierend. Ganz oben prangte die Überschrift: MÖRDERIN! , stand da, in Großbuchstaben und mit Ausrufezeichen. Darunter Irinas Foto und dann folgte: ›Frauen, passt auf Eure Männer auf, denn Irina ist wieder solo. Schon ihr erster Mann ist auf mysteriöse Weise ums Leben gekommen. Die Polizei vermutet, dass die Russin einen Auftragskiller angeheuert hat, der dem beliebten Goldbacher Ortsvorsteher den Garaus gemacht hat. Goldbach ist froh, wenn diese Frau endlich im Gefängnis schmort, wie sie es verdient.‹ Heiko ließ das Blatt sinken und musterte die junge Witwe eingehend. Ihr Gesichtsausdruck schien ihm jetzt entsetzt, enttäuscht, müde. »Haben Sie eine Ahnung, wer das gewesen sein könnte?« Die Russin schnaubte verächtlich, was für sie ganz und gar untypisch war, da sie normalerweise eine gewisse aristokratische Grundhaltung wahrte. »Raten Sie mal«, meinte sie und ruckte mit dem Kopf in eine bestimmte Richtung, die zum Nebenhaus deuten sollte. Es war nicht die Richtung, in der Sackler wohnte, und die Kommissare konnten sich schon denken, wen sie verdächtigte. »Möchten Sie Anzeige erstatten?«, fragte Lisa und legte der Frau mitfühlend eine Hand auf den Arm. Doch Irina winkte ab. »Wissen Sie, ich bin müde. Ich habe keine Lust mehr. Sollen die Leute sagen, was sie wollen. Hauptsache, ich habe Viktoria. Und Alexander.«
Heiko und Lisa schwiegen betreten. »Ich kann verstehen, dass die Situation furchtbar für Sie sein muss«, gab Heiko zu.
»Nein, das können Sie nicht verstehen. Trotzdem danke für den Versuch.« Stille stand im Raum, eine Minute lang sagte keiner ein Wort, man hörte nur das Kind, das sich leise mit den Spielzeugen beschäftigte. »Gibt es denn gar keine Möglichkeit, dass er dableiben kann?« Heiko schüttelte betreten den Kopf. »Leider nein.« Nun lachte Irina unfroh, verbarg ihr Gesicht in den schönen, schmalen Händen und schlug dann vor: »Er könnte doch eine Deutsche heiraten.« Heiko und Lisa wussten nicht genau, wie ernst dieser Vorschlag gemeint war, ob er reiner Bitterkeit entsprungen war oder purer Verzweiflung.
Heiko beschloss, das Thema zu wechseln, da diese Unterhaltung nicht wirklich zu einem Ziel führte und insgesamt recht unselig war. »Wir haben ein Anliegen und sind deshalb hergekommen, Frau Siegler.« Irina schien sich zu fassen, hob die Augenbrauen und wirkte wieder fast neutral, auch wenn es in ihr brodeln musste. »Wir würden uns sehr gerne einmal die Geschäftsunterlagen Ihres Mannes anschauen.«
»Bitte. Gehen Sie hoch in sein Büro. Erste Tür rechts. Ich war da nicht mehr, seit er zum letzten Mal aus dem Haus ist.«
Kurze Zeit später saßen die beiden Kommissare über sechs oder sieben aufgeschlagene Ordner gebeugt und blätterten etwas ratlos darin herum. Alles wirkte gut sortiert und gewissenhaft geordnet. Endlich, nach etwa einer halben Stunde, kam Irina mit federnd-eleganten Schritten die Treppe hoch und brachte ein Tablett mit zwei Tassen Kaffee. »Ich dachte, Sie mögen vielleicht einen Kaffee«, sagte sie und wirkte irgendwie verlegen. Heiko und Lisa bedankten sich, das war tatsächlich eine gute Idee. »Kommen Sie zurecht?«, fragte die junge Frau, während Heiko Milch und Zucker in sein Getränk rührte und Lisa bereits am gänzlich schwarzen Kaffee nippte. »Ja, danke, Frau Siegler. Eine Sache ist uns allerdings aufgefallen.«
»Ja?«
»Die Aufzeichnungen beginnen erst vor fünf Jahren. Wo ist denn der Rest?«
Irina hob die Schultern, antwortete dann aber: »Mein Mann hat diese Arbeit erst vor fünf Jahren angefangen, soweit ich weiß. Davor war er Vertreter.«
»So!«, entfuhr es Heiko.
»Ja. Mehr kann ich Ihnen dazu aber nicht sagen, er hat da nicht gerne drüber geredet.«
Heiko und Lisa durchforsteten noch weiter die Unterlagen und fanden tatsächlich noch einige der dubiosen Bausparverträge, die Steidle angedeutet hatte. »Eine Viertelmillion Bausparsumme«, referierte Heiko.
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