Fischland-Rache
Fahrtenbuch.«
Kassandra wühlte sich durch einen Eiskratzer, eine Packung Papiertaschentücher und zwei gebrauchte Scheibenwischlappen, bis sie einen kleinen Block hervorzog. Sie blätterte ein Stück zurück und fand den entsprechenden Eintrag. »Hier! Vermietet: Mittwoch, 16. November, achtzehn Uhr fünfzehn, Kilometerstand: 129.476, Rückgabe: Donnerstag, 17. November, acht Uhr zwei, Kilometerstand: 129.745, gefahrene Kilometer: 269.« Sie sah hoch. »Das kommt ungefähr hin mit Schwerin-Wustrow und zurück, plus ein paar Kilometer von hier bis zum Hotel.«
Paul betrachtete durch die Windschutzscheibe den Spielplatz gegenüber. »Er könnte auch nach Süden gefahren sein oder nach Westen«, meinte er etwas angestrengt.
Kassandra lieà etwas Zeit verstreichen. »Du hast gar nicht gehofft, dass wir was Belastendes finden. Du wolltest was finden, das Clemens Meisner ent lastet.«
»Schätze schon.«
»Was tun wir jetzt?«
Paul seufzte. »Erst mal fahren wir zu meiner Mutter.« Er stieg aus, schlug mit Wucht die Tür des Polos zu und drückte Kassandra den Schlüssel in die Hand. »Erledigst du das, Annerose?«
Als Kassandra wieder auf die StraÃe trat, lehnte Paul an seinem Wagen. Es war kalt, obwohl die Sonne schien, aber er stieg erst jetzt, nachdem er seinen Ausweis verstaut hatte, zusammen mit ihr ein. Er startete den Motor, ohne die Unterhaltung wieder aufzunehmen, worüber Kassandra ganz froh war, weil sie einen ziemlich beunruhigenden Gedanken nicht mehr loswurde. Vielleicht wollte Paul gar nicht, dass rauskam, wer seinen Bruder getötet hatte. Vielleicht wollte er bloà Heinz aus der U-Haft holen â nicht jemand anderen hineinbringen. Das Dumme war nur, dass das eine wahrscheinlich nicht ohne das andere funktionieren würde, es sei denn, sie fanden im Laufe ihrer Ermittlungen eindeutige Hinweise darauf, dass Heinz es gar nicht gewesen sein konnte .
Aber warum hatte Paul den Verdacht überhaupt auf Clemens Meisner gelenkt? Er hätte sagen können, dass in Saschas Buch nichts über ihn stand, niemand hätte ihm das Gegenteil beweisen können. Vielleicht wäre aber durch Violetta, deren Mutter oder deren Tante früher oder später ans Licht gekommen, was zu Steffens Selbstmordversuch geführt hatte. Da war es besser, er unterschlug den Eintrag nicht, denn dass Sascha den Vorfall in seinem Buch notiert hatte, war naheliegend, und Paul hätte sich unglaubwürdig gemacht. Kassandra wurde ein wenig schwindelig. Paul hatte für die Tatnacht kein Alibi und Dietrichs Andeutungen zufolge ein Motiv, das über einen bloÃen Streit unter Brüdern hinausging. Beides zusammengenommen führte Kassandra in Kombination mit diesem unbestimmten Gefühl, dass Paul keinen Täter suchte, sondern maximal einen Entlastungszeugen, unweigerlich zu einem logischen Schluss. Sie wagte nicht, diesen Schluss in Worte oder auch nur in Gedanken zu fassen.
Stattdessen schaute sie unauffällig zu Paul und beobachtete ihn, bis er belustigt sagte: »Das hatten wir doch schon mal. Du guckst besonders auffällig, wenn du versuchst, unauffällig zu gucken.«
Als ihr Blick auf seinen traf, formte sich schlieÃlich doch mit aller Macht und gegen jeden Widerstand der Satz in ihrem Kopf: Paul hat Sascha erschossen. Sie erschrak zutiefst, und gleichzeitig wurde ihr die Absurdität eines solchen Verdachts bewusst. Selbst wenn alles gegen ihn und nichts gegen jemand anderen spräche â es war Paul, um den es hier ging! Er würde niemals einen Menschen töten.
»Erinner mich dran, dass ich das abstelle«, sagte sie viel zu spät zu Paul. Zu ihrer eigenen Ãberraschung klang ihre Stimme ganz normal.
»Bei nächster Gelegenheit«, erwiderte er. Kurz dachte Kassandra, er wolle noch etwas sagen, aber er lieà es bleiben.
Margarethe Freese lebte in einer kleinen Altbauwohnung in der Nähe der Paulskirche, deren drei Turmspitzen beeindruckend am Ende der mit Kopfstein gepflasterten StraÃe aufragten. Pauls Mutter war dreiundachtzig Jahre alt, kam aber noch problemlos allein zurecht. Kassandra kannte sie von Fotos, sie war eine groÃe, schlanke Frau gewesen, von ihr hatte Paul seine Statur geerbt. Heute jedoch wirkte sie eingesunken, ihr Händedruck kraftlos.
»Es ist schön, Sie kennenzulernen, Kassandra«, sagte sie, »wenn ich mir auch einen freudigeren Anlass
Weitere Kostenlose Bücher