Fischland-Rache
kamen gewöhnlich nur Leute, die den Verstorbenen gut gekannt â und gemocht hatten. Besonders Letzteres dürfte die Zahl sehr dezimieren.
13
Mit der Fischtüte und einer Einkaufstasche in der Hand und zwei Flaschen Wein unterm Arm stand sie vor Pauls Haus und klingelte. Es dauerte, bis er öffnete, das Telefon am Ohr. Er hob nur kurz die Brauen und sprach dabei schon weiter. »Kein Problem, Query, es ist nicht so dringend. Danke dir.« Paul legte das Telefon auf den Schreibtisch und kam zu Kassandra herüber, die ihre Einkäufe auf dem Küchentisch abgestellt hatte und gerade den Fisch in den Kühlschrank legte. »Was ist los?«
»Ich hatte den Schlüssel zu tief in der Tasche vergraben und kam mit all dem Zeug in den Händen nicht dran, deswegen hab ich geklingelt.«
Paul legte den Kopf schief. »Das meinte ich nicht. Es ist erst fünf, und du kommst sonst nie so früh, wenn du weiÃt, dass ich arbeite.«
Genau genommen hatte es Kassandra allein zu Hause nicht mehr ausgehalten. Es war gut, dass sie mit Sven gesprochen hatte. Nicht so sehr wegen der Information über Inga â oder vorsichtiger ausgedrückt: über die Frau, die mutmaÃlich Inga gewesen war. Gut war es deshalb, weil ihre letzte Begegnung vor Gericht dermaÃen unerfreulich verlaufen war, dass sie die Erinnerung daran nie endgültig hatte abschütteln können. Auf gewisse Weise hatten sie jetzt ihren Frieden miteinander geschlossen. Dennoch lastete das Erlebnis auf ihr, sie wollte zurück in ihr neues, ihr richtiges Leben â und weder was von ihrem alten wissen noch darüber sprechen.
»Ich hatte einfach Sehnsucht nach dir«, sagte sie wahrheitsgemäÃ. »Ich wollte dich nicht stören.«
Etwas zweifelnd musterte Paul sie, wohl ahnend, dass das nicht die ganze Wahrheit war, aber er drängte sie nicht. »Du störst mich nie, das weiÃt du. Abgesehen davon kann ich nicht behaupten, viel gearbeitet zu haben. Ich hab kaum was zustande gebracht, stattdessen habe ich mich mit anderen Dingen beschäftigt, zu viel über die Vergangenheit nachgedacht und in alten Unterlagen gewühlt. Dabei ist mir das hier in die Hände gefallen.« Er ging zum Schreibtisch zurück, wohin Kassandra ihm neugierig folgte.
»Ein Adressbuch? Sieht etwas zerfleddert aus.«
Paul nickte. »Die Anschrift von Michas Eltern steht drin, ich wusste gar nicht mehr, wie sein Vater hieÃ. In Berlin gibtâs noch einen Ernst-Georg Lange, nicht mehr unter derselben Adresse, aber immerhin.«
»Wenn das sein Vater ist, könnte Dietrich sich die Recherchen sparen. Hast du schon angerufen?«
»Wollte ich gerade tun, da kam Query dazwischen.« Query war Pauls Rechercheurin für besonders verzwickte Details. Kassandra hatte sie nie persönlich kennengelernt, wusste aber um ihre Fähigkeiten. Paul nahm das Telefon mit zum Sofa, wählte und schaltete auf Lautsprecher. Das Freizeichen ertönte fünfmal, bis jemand abhob.
»Ja, bitte?«, fragte eine männliche Stimme.
»Guten Tag, meine Name ist Paul Freese, spreche ich mit Ernst-Georg Lange?«
»Falls Sie mir einen günstigen Handytarif oder was ähnlich Ãberflüssiges andrehen wollen, mache ich Sie darauf aufmerksam, dass ich weder ein Handy noch einen Computer besitze und an Meinungsumfragen ebenfalls kein Interesse habe. Wiedersehen.«
Bevor Paul auch nur die Chance hatte zu sagen, was er wollte, wurde aufgelegt.
»Das ist ja mal ein resoluter Mensch«, fand Kassandra. Trotz der Umstände musste sie lachen.
Paul drückte die Wahlwiederholung. Sofort als das Gespräch angenommen wurde, redete er los. »Herr Lange, bitte nicht wieder auflegen. Ich rufe wegen Micha an.«
Am anderen Ende der Leitung entstand eine längere Pause, aber immerhin erfüllte sich Pauls Wunsch. »Micha? Wer sind Sie, haben Sie gesagt?«
»Paul Freese. Ich kannte Micha, als er in Wustrow an der Seefahrtschule studiert hat. Als wir â¦Â« Er stockte. »Seit wir wegen des Piratensenders geschnappt wurden und ins Gefängnis mussten, haben wir uns nicht mehr gesehen. Ich wüsste gern, wo Micha heute steckt. Ich verstehe, dass das ein bisschen merkwürdig klingt nach so langer Zeit, aber es ist sehr wichtig für mich.«
Wieder lieà die Antwort etwas auf sich warten. »Ich erinnere mich an Ihren Namen. Sie sind der, der mit zehneinhalb Monaten
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