Fitz der Weitseher 01 - Der Weitseher
mutigen Seefahrern war ihm immer noch treu. Sie priesen ihn und fluchten bei seinem Namen, und um sie weiter abzuhärten, sandte er ihnen Stürme und kalte Winde.
Doch im Lauf der Zeit wurden Els Getreue immer weniger. Das verweichlichte Landvolk verführte die Seefahrer und gebar ihnen Kinder, die nur dazu taugten, die Erde umzugraben. Und das Meeresvolk verließ die unwirtlichen Küsten und frostigen Weiden und
zog nach Süden in das sonnenverwöhnte Land der Reben und Kornfelder. Jedes Jahr kehrten weniger und weniger zurück, um die Wellen zu pflügen und den Fisch zu ernten, den El ihnen geschenkt hatte. Immer seltener vernahm El seinen Namen von den Lippen seiner Auserwählten, sei es als Fluch oder Segensspruch. Bis schließlich ein Tag kam, da nur noch einer übrig war, der Els Namen im Munde führte: ein zahnloser Greis. Seine Segenssprüche und Flüche waren kraftlos und mehr eine Kränkung als eine Freude für El, der gebrechliche alte Männer verachtete.
Es kam ein Sturm, der für den alten Mann in seinem kleinen Boot das Ende hätte sein sollen. Doch als die eisigen Wellen über ihn hereinbrachen, klammerte er sich an das treibende Wrack und schrie im Mute der Verzweiflung nach El und um Gnade, obwohl jedermann dessen Unbarmherzigkeit kannte. So erzürnt war El ob dieser Gotteslästerung, dass er den alten Mann nicht in sein Reich aufnehmen wollte, sondern ihn ans Ufer warf und mit einem Fluch belegte: Weder sollte er je wieder das Meer befahren, noch sollte ihn der Tod je von seinem Leben erlösen dürfen. Und als der alte Mann aus den salzigen Fluten kroch, waren sein Gesicht und sein Körper von Wundmalen gezeichnet, als hätten Muscheln an seiner Haut gehaftet, und er erhob sich mühsam und wanderte in die warmen Länder. Wo er auch hinkam, begegnete ihm nur verweichlichtes Landvolk. Er warnte sie vor ihrer Torheit und prophezeite ihnen, dass El ein neues und kühneres Volk erwählen werde und diesem gebe, was sie verschmähten. Aber die Menschen hörten nicht auf den Gezeichneten, so bequem und satt waren sie geworden. Doch immer und überall folgte auf den Wegen des alten Mannes die Seuche nach. So verbreiteten sich mit ihm die Pocken, die nicht fragen, ob einer stark oder schwach ist, abgehärtet oder verweichlicht, sondern jeden verderben, den sie berühren. Und so erfüllte sich auch die Gottesstrafe, denn jedermann weiß, dass die
Pocken mit dem giftigen Staub aufsteigen und beim Aufbrechen der Scholle vom Wind über das Land getragen werden.
So berichtete die Sage, und deshalb ist der Narbenmann zum Vorboten von Tod und Krankheit geworden und eine Mahnung für all jene, die ein üppiges, müßiges Leben führen, weil ihre Felder reichen Ertrag bringen.
Die Ereignisse in Ingot überschatteten Veritas’ Rückkehr nach Bocksburg. Pragmatisch bis zum äußersten, war er aufgebrochen, sobald sich zwischen Kelvar und Shemshy in Sachen Ödholm eine Einigung abzeichnete. Wie sich herausstellte, hatten er und seine Leibgarde Seewacht schon verlassen, bevor Chade und ich im Wirtshaus eintrafen. So verlief die Rückreise auch ziemlich trostlos. Tagsüber und abends an den Lagerfeuern drehten sich alle Gespräche um Ingot, und selbst innerhalb unserer Karawane machten immer mehr Geschichten die Runde, die von Mal zu Mal weiter ausgeschmückt wurden.
Ich hatte unter Chade zu leiden, der wieder in seine Rolle als alte Vettel geschlüpft war. Ich musste »Lady Quendel« von hinten bis vorn bedienen, was erst in Bocksburg ein Ende hatte, als ihre Kammerzofen herbeigeeilt kamen, um sie in ihre Gemächer zu geleiten. Sie wohnte im Frauentrakt der Burg, doch obwohl ich mich in den nächsten Tagen bemühte, so viel wie möglich über sie in Erfahrung zu bringen, hörte ich nichts weiter von ihr, außer dass sie sehr zurückgezogen lebte und schwierig war. Wie Chade die Figur der Lady Quendel erschaffen hatte und mit welchen Kunstgriffen er ihre fiktive Existenz aufrechterhielt, habe ich nie ganz herausgefunden.
In Bocksburg schien während unserer Abwesenheit ein Sturm von Neuigkeiten losgebrochen zu sein, so dass es mir vorkam, als
wären wir zehn Jahre weg gewesen und nicht bloß einige Wochen. Nicht einmal das Drama von Ingot vermochte die Nachricht von Lady Grazias öffentlichem Auftritt gänzlich zu verdrängen. Die Geschichte wurde wieder und wieder erzählt, und Dichter und Sänger wetteiferten darum, mit ihren kunstvollen Versionen die Gunst des Publikums zu erringen. Ich hörte, dass Herzog
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