Fitz der Weitseher 01 - Der Weitseher
seid müde«, sagt mein Page. Er steht neben mir, und ich weiß nicht, wie lange schon. Behutsam löst er mir die Feder aus den kraftlosen Fingern. Ich betrachte müde die geschlängelten Linien, die sie auf dem Blatt hinterlassen hat. Wo habe ich das nur schon einmal gesehen, überlege ich, und es war damals keine Tinte. Ein Blutrinnsal auf den Decksplanken eines Roten Schiffes, und meine Hand hat es vergessen? Oder war es Rauch, der sich schwarz in den blauen Himmel kräuselte, als ich von einem Hügel aus zusehen musste, dass es zu spät war, die Dorfbewohner vor dem Überfall der Korsaren zu warnen? Oder war es Erinnerung an das Gift, das in einem Glas Wasser zu gelblichen Schleiern zerfloss; Gift, das ich jemandem reichte und dabei lächelte? Oder ähnelte die Linie lockigem Frauenhaar, das auf meinem Kissen zurückgeblieben war? Oder an die Furchen, die die Fersen eines Mannes durch den Sand zogen, als wir die Toten aus dem abgebrannten Turm in der Seehundbucht schleppten? War es die Spur einer Träne auf der Wange einer Mutter, als sie ihr entfremdetes Kind an die Brust drückte, obwohl es sich zornig gegen sie sträubte? Gleich den Roten Korsaren kommen die Erinnerungen ohne Vorwarnung, und ohne Erbarmen.
»Ihr solltet ruhen«, sagt der Page wieder, und ich merke, dass ich an meinem Schreibtisch sitze und auf einen schwächlichen Federstrich starre. Es ergibt keinen Sinn. Es war damit nur ein weiterer kostbarer Bogen Papier verdorben und eine weitere Mühe vergebens.
Ich nicke dem Pagen zu und erhebe keine Einwände, als er die Blätter einsammelt und zu einem unordentlichen Stapel aufschichtet. Pflanzenkunde und Geschichte, Karten und Gedankensplitter, alles ein einziges Durcheinander in seinen Händen wie in meinem Kopf.
Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, was ich mir vorgenommen hatte zu tun. Der Schmerz ist wieder da, und es wäre so einfach, ihn zu stillen. Aber diese Verlockung ist Wahnsinn, wie schon so viele vor mir erfahren mussten. Also schicke ich stattdessen den Pagen fort, um mir zwei Blätter Carryme zu holen, dazu Ingwerwurzel und Pfefferminzblätter für den Tee. Ich frage mich, ob ich ihm eines Tages auftragen werde, drei Blätter von diesem Kraut der Chyurda zu bringen.
Von irgendwoher sagt die Stimme eines Freundes: »Nein.«
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Der Schattenbote
Titel der amerikanischen Originalausgabe:
THE FARSEER 1: ASSASSIN’S APPRENTICE
Deutsche Übersetzung von Eva Bauche-Eppers
Überarbeitete Neuausgabe 05/2009
Redaktion: Heinz Scheffelmeier
Copyright © 1995 by Robin Hobb Copyright © 2009 dieser Ausgabe by
Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Umschlagillustration: Paolo Barbieri
eISBN : 978-3-641-02606-6
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