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Fitz der Weitseher 01 - Der Weitseher

Titel: Fitz der Weitseher 01 - Der Weitseher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robin Hobb
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konnten sie zuschlagen, wo wir am wenigsten darauf vorbereitet waren.« Er wandte sich zu mir um, als wollte er noch etwas sagen, aber dann begann er plötzlich zu taumeln, seine Beine knickten ein, und er musste sich setzen. Alle Farbe war aus seinem Gesicht gewichen. Er neigte den Kopf und legte beide Hände an die Stirn.
    »Chade!«, rief ich erschrocken und stürzte zu ihm hin, doch er wich mir aus.
    »Carris«, murmelte er ohne aufzublicken. »Der Nachteil ist, dass die Wirkung so plötzlich nachlässt. Burrich hatte Recht,
dich vor dem Teufelszeug zu warnen, Junge, aber manchmal bleibt einem nichts anderes übrig, als sich auf so etwas einzulassen.«
    Er hob den Kopf. Seine Augen waren trüb, seine Lippen wirkten schlaff. »Ich muss jetzt ausruhen«, sagte er so kläglich wie ein krankes Kind. Ich fing ihn auf, als er nach vorne kippte und half ihm, sich auszustrecken. Dann schob ich ihm meine Satteltaschen unter den Kopf und deckte ihn mit unseren Umhängen zu. Während der Nacht schlief ich Rücken an Rücken mit ihm, weil ich hoffte, ihn so wärmen zu können, und gab ihm am nächsten Tag den Rest unseres Proviants zu essen.
    Gegen Abend hatte er sich so weit erholt, dass er wieder in den Sattel steigen konnte, und wir setzten unsere trostlose Reise fort. Wir ritten langsam und nur bei Nacht. Chade bestimmte die Richtung, aber ich führte, und oft war er kaum mehr als eine stumme Last auf seinem Pferd. Für den Rückweg zur Küste brauchten wir dieses Mal zwei Tage, den wir zuvor in einer wilden Nacht durchritten hatten. Zu essen gab es wenig, und gesprochen wurde noch weniger. Chade machte den Eindruck, als fiele ihm allein schon das Denken schwer, und was ihm durch den Kopf ging, fand er zu trostlos, um es in Worte zu fassen.
    Er zeigte mir die Stelle, wo ich das Signalfeuer für unser Schiff entzünden sollte. Man schickte das Beiboot ans Ufer, und Chade stieg wortlos ein - ein sicheres Zeichen dafür, wie sehr er mit seinen Kräften am Ende war. Er setzte einfach voraus, dass ich allein mit den Pferden fertig werden konnte, und was blieb mir anderes übrig, als mich der Aufgabe gewachsen zu zeigen. Dann endlich an Bord schlief ich wie ein Toter. Am nächsten Tag hieß es, alles wieder auszuladen und das letzte Stück Wegs hinter uns zu bringen. Kurz vor Tagesanbruch kamen wir
in Guthaven an, und Lady Quendel zog wieder in ihre Gemächer im Wirtshaus ein.
    Tags darauf konnte ich der Wirtin mitteilen, dass die alte Dame sich besser fühlte und den Wunsch geäußert hätte, etwas zu sich zu nehmen, falls man so gut sein wolle, aus der Küche eine leichte Mahlzeit heraufzuschicken. Tatsächlich schien Chade sich zu erholen, obwohl er in Abständen starke Schweißausbrüche hatte und dann unangenehm süßlich nach Carrisöl roch. Er aß mit Heißhunger und trank große Mengen Wasser, aber nach zwei Tagen trug er mir auf, der Wirtin zu sagen, Lady Quendel gedenke am nächsten Morgen abzureisen.
    Ich erholte mich wesentlich schneller von den Strapazen und nutzte die Zeit, um durch den Ort zu schlendern, mir die Auslagen in den Läden und auf dem Markt anzusehen und die Ohren für all den Klatsch offen zu halten, dem Chade solche Bedeutung zumaß. Was wir auf diese Weise erfuhren, deckte sich mit unseren Erwartungen. Veritas hatte mit seiner Mission Erfolg gehabt, und Lady Grazia war zum Liebling des Volkes avanciert. Ich konnte bereits erkennen, wie an den Straßen und Befestigungen gebaut wurde, der Turm auf Ödholm war mit Kelvars besten Soldaten bemannt und hieß im Volksmund neuerdings Grazias Turm. Doch es wurde auch darüber gemunkelt, wie die Roten Korsaren unbemerkt an Veritas’ eigenen Türmen vorbeigeschlüpft waren und was sich in Ingot Befremdliches abgespielt hatte. Mehr als einmal hörte ich flüstern, man habe hier und dort den Narbenmann gesehen, und die Schauergeschichten, die man sich am Kaminfeuer in den Schenken über jene erzählte, die jetzt in Ingot hausten, verursachten mir Alpträume.
    Die Flüchtlinge aus Ingot wussten Erschütterndes zu berichten,
über Verwandte und Freunde, die nach ihrer Rückkehr nicht wiederzuerkennen gewesen waren, kaltherzige, gefühllose Fremde, die nichts mehr von der Gestalt der einstigen Lieben gemein hatten. Sie lebten in ihrem Heimatort, als wären sie noch Menschen, aber gerade diejenigen, die sie am besten gekannt hatten, ließen sich nicht täuschen. Dort geschah am helllichten Tag, was man in Bocksburg nicht einmal unter dem Deckmantel der Nacht zu

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