Fitz der Weitseher 02 - Der Schattenbote
als würde ich auf einer Brücke aus Spinnwebfäden gehen, überlagerte ich ihre Sinne mit den meinen.
Sie spürte. Und das nicht etwa wie ich, nicht zu einem bestimmten Tier oder um die Umgebung zuerkunden. Kettricken suchte nicht mit der Macht der Gabe, es war vielmehr so, wie sie gesagt hatte, einfach eine Art des Seins, aber als Teil des Ganzen. Sie ruhte ganz in sich selbst und überschaute die Mannigfaltigkeit ihrer Verbindungen mit dem großen Netz - und war zufrieden. Es war ein zartes, fragiles Gewebe und erfüllte mich mit Staunen. Für einen Augenblick versank auch ich in ei nen Zustand der Entspannung. Ich at mete aus und öff nete mich der Macht so be reitwillig wie nie zuvor. Ich ließ alle Vorsicht fahren, auch die Angst, dass Burrich mich wahrnehmen könnte. Kettrickens Spüren erinnerte an Tautropfen, die an ei nem Spinnwebfaden herabperlen. Ich dagegen war eine aufgestaute Flut, die sich durch die plötzlich geöffneten Schleusen ergießt, um alte Kanäle aufzufüllen, und kleine Wasserläufe aussendet, um die Niederungen zu erforschen.
Lass uns jagen. Der Wolf, er war voller Freude.
In den Ställen richtete Burrich sich von sei ner Arbeit auf und runzelte die Stirn. Rußflocke stampfte in ihrer Box. Molly warf den Kopf zurück und löste ihr Haar. Mir gegenüber zuckte Kettricken plötzlich zusammen und sah mich an, als hät te ich laut gesprochen.
Einen wei teren Moment lang wurde ich um fangen, von tausend Seiten ergriffen, gedehnt, ausgespannt und dann in mitleidlose Helligkeit getaucht. Ich fühlte alles auf ein mal, nicht nur die menschlichen Wesen mit ihrem Kommen und Gehen, sondern jede Taube auf dem Dach, jede huschende Maus hinter den Weinfässern, jedes Stäubchen Leben, keines zu winzig oder zu unbedeutend, um nicht ein Knotenpunkt im Netz zu sein. Nichts ist für sich allein, nichts ist vergessen, nichts ist ohne Bedeutung und nichts von Wichtigkeit - von irgendwoher erklang von irgendjemanden dieser Gesang, der dann verstummte. Nach dieser einzelnen Stimme ertönte aus der Ferne und ganz leise ein Chor anderer Stimmen. Was? Wie bitte? Hast du gerufen? Bist du hier? Träume ich? Sie zupften an mir wie Bett ler am Ärmel eines Vorübergehenden, und plötzlich kam mir zu Bewusstsein, dass, wenn ich mich nicht bald zurückzog, Gefahr lief, nicht von ihnen fortgezogen zu werden. Ich konzentrierte mich wieder auf mich selbst. Ich atmete ein.
Es war praktisch keine Zeit vergangen. Nur ein Atemzug, ein Lidschlag. Kettricken sah mich seltsam an. Ich gab mir den Anschein, es nicht zu bemerken. Ich kratzte mich an der Nase. Ich rückte hin und her.
Ich faltete die Hände im Schoß, ich legte sie auf die Knie. Ich ließ noch ei nige Minuten verstreichen, bevor ich aufseufzte und entschuldigend die Schultern hob. »Ich fürchte, ich verstehe dieses Spiel nicht.«
Es war mir gelungen, sie zu verärgern. »Es ist kein Spiel. Du
brauchst es nicht zu verstehen oder zu ›tun‹. Richte deinen Blick nach innen und beschränke dich ganz darauf zu sein.«
Ich tat so, als machte ich ei nen zweiten Versuch. Kurze Zeit saß ich still, dann spielte ich an meiner Manschette herum, bis Kettricken aufmerksam wurde und mich anschaute. Ich senkte beschämt den Blick. »Die Kerze riecht sehr gut«, bemerkte ich verlegen.
Kettricken seufzte und gab mich als hoffnungslos auf. »Die junge Frau, die sie her stellt, hat ein großes Verständnis für Düfte. Mit ihren Duftstoffen kann sie mir meine Gärten ins Zimmer bringen. Edel hat mir eine ihrer Geißblattkerzen gebracht, und danach habe ich mir selbst ihre Waren angesehen. Sie ist eine Dienstmagd hier und hat nicht die Zeit und nicht die Mög lichkeiten, Kerzen in größeren Mengen herzustellen. Deshalb weiß ich es zu schätzen, wenn sie kommt, um mir welche anzubieten.«
»Edel«, wiederholte ich. Edel, der mit Molly redete. Edel, der sie gut genug kannte, um von ihrer Tätigkeit als Kerzenzieherin zu wissen. Eine böse Vorahnung krampfte mir den Magen zusammen. »Hoheit, ich glaube, ich störe Euch bei Eurer Meditation. Darf ich Euch verlassen, um wiederzukommen, wenn Ihr meine Gesellschaft wünscht?«
»Für diese Übung ist es nicht notwendig, allein zu sein, FitzChivalric.« Sie schaute mich traurig an. »Willst du nicht noch einmal versuchen, dich zu lösen? Einen Moment lang dachte ich … Nein? Nun gut, dann lasse ich dich ge hen.« Ihre Stimme verriet Bedauern und Einsamkeit. Aber schon straffte sie die Schultern und atmete wieder tief ein und
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