FJORD: Thriller (German Edition)
sich Erik zu erinnern. »Anni, ich schwöre dir …«
»Du musst nichts schwören. Ich weiß inzwischen, dass du nichts mit der Sache zu tun hattest, aber …«, erneut zögerte sie kurz, blickte ihn dann aber an, »obwohl ich es nicht glauben konnte oder wollte, hatte ich für einen Moment doch Zweifel an dir. Und dafür möchte ich mich entschuldigen.«
Erik griff nach ihrer Hand. »Musst du nicht.«
»Die Leute …«
»Lass die Leute reden. Wir haben uns.«
Ann Christin beugte sich weinend über Erik und drückte ihm einen Kuss auf die Stirn. Eine Träne fiel auf seine Wange. Sie strich sie mit dem Daumen weg und legte die Handfläche an Eriks Wange. Er schlief wieder ein.
50
Als die Polizei aus Trondheim samt Sanitätern eintraf, waren die Entführten bereits frei und verarztet. Der Täter hatte sich selbst gerichtet.
Magnus Paulsen lag zusammen mit seiner Frau im Schlafzimmer seiner Hotelsuite. Sie würden sich beide - zumindest körperlich – erholen. Doch die Familie, die sie immer für heil gehalten hatten, war an der Realität zerbrochen. Liv war tot und Gunnar hatte angekündigt, sein Erbe ausschlagen und wegziehen zu wollen.
Dass gerade Odin die Vermissten finden würde, hätte nicht einmal Noah zu hoffen gewagt. Es erschien ihm fast wie ein Wunder, dass Erik das Martyrium in der Kühlkammer trotz dieser Verletzung überlebt hatte.
Der Schock, Tor Einar Hetland tot bei Erik zu finden, konnte die Freude über die Entdeckung der kleinen Aurora nicht schmälern. Noah wusste, ohne Erik als Beistand hätte sie es nicht überlebt. Alleine schon deshalb, weil man sie nie gefunden hätte.
51
Noah blickte noch einmal in den Spiegel und zog sich die Krawatte zurecht. Er hatte etwas vor, das ihm eigentlich nicht zustand, und er war nervös. Aber es musste getan werden, um Kongesanger von Gerüchten und Zerwürfnissen zu befreien. Noah hatte eine Gemeindeversammlung einberufen, um alle Einwohner gemeinsam zu informieren. Reden zu schwingen oder vor großem Publikum zu sprechen, lag ihm noch nie.
Er atmete noch einmal tief durch, wischte sich die schwitzenden Hände an den Hosenbeinen ab und trat hinaus auf die kleine Bühne, auf der sonst Veranstaltungen stattfanden oder Wahlreden gehalten wurden. Der Saal war voll. Alle Erwachsenen schienen gekommen zu sein. Die Bestuhlung reichte bei weitem nicht aus. An den Wänden und vor den Türen reihten sich die Menschen. Der Lärm war fast unerträglich, vereinzelt waren Beschimpfungen zu hören. Das Mitteilungsbedürfnis der Kongesanger schien endlos.
Noah setzte sich unbeholfen an den Tisch mit dem Mikrofon und räusperte sich. »Hallo, meine lieben Freunde und Mitbürger«, begrüßte er die Anwesenden. Das Gemurmel verstummte. »Ich habe, obwohl ich eigentlich keine Befugnis dazu habe, diese Versammlung einberufen, um euch über die Umstände und Vorfälle der letzten Wochen wahrheitsgemäß zu informieren.«
Erste Zwischenrufe wurden laut. Noah ignorierte sie. »Bitte lasst mich in Ruhe sprechen. Ich werde, sofern möglich, gerne hinterher Fragen beantworten.« Er machte eine kurze Pause. »Und um eines möchte ich euch noch bitten: Vergesst die Gerüchte. Vergesst die falschen Verdächtigungen. Vergesst, was euch in den letzten Tagen und Wochen zugetragen wurde. Vergesst bitte alles, was nicht dem entspricht, was ich euch jetzt zu sagen habe.« Ohne es zu wollen, sah Noah in Richtung der Witwe Erika Nolte. »Einige hier haben eine lebhafte Phantasie. Da wurden Zusammenhänge erfunden und die Wirklichkeit verdreht. Lasst Misstrauen und Zweifel unsere Gemeinschaft nicht weiter zerstören. Kongesanger würde daran zugrunde gehen. Und ich denke, ich spreche im Namen aller, wenn ich sage: Wir haben viel zu lange für eine Zukunft gekämpft, um unseren Ort aufzugeben. Doch dazu später mehr.«
Noah griff zu seinem Glas und trank ein Schluck Wasser. Er hatte lange überlegt, wie er das Geschehene erklären sollte. Doch plötzlich schienen die Worte weg zu sein. Er griff verlegen in die Tasche seines Jacketts und holte seine Notizen hervor, glättete sie, setzte die Brille auf, die er zum Lesen brauchte, und konzentrierte sich auf den Text.
»Einige Menschen fehlen. Sie werden für lange Zeit oder nie wieder in unserer Mitte weilen. Er machte eine kleine Pause. »Wie die meisten bereits wissen, ist Liv Paulsen tot. Wir kannten sie alle. Man hat sie geschätzt, geliebt oder verachtet. Sie hat unsere Gemeinschaft kräftig durchgewirbelt.
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