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Flamingos im Schnee

Flamingos im Schnee

Titel: Flamingos im Schnee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wendy Wunder
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Sie war zu müde, um sich darüber zu ärgern, dass ihre elfjährige Schwester über ihr nicht vorhandenes Sexleben Bescheid wusste. Und viel zu müde, um dankbar dafür zu sein, dass wenigstens die Streitlust zwischen ihr und ihrer Schwester im Bereich des Normalen lag. Vermutlich war es sogar das Einzige in ihrem Leben, was noch im Bereich des Normalen lag. Alles andere, wie die extreme Erschöpfung, die sie gerade empfand, lag weit, weit außerhalb des normalen Bereichs. Sie war sogar zu müde, um Lily anzurufen. Sie konnte es nicht erwarten, sich aufs Bett zu werfen und in einen tiefen, tiefen Schlaf zu fallen, doch als sie um die Ecke bog, schnappte sie nach Luft.
    Alles war verschwunden.

F ÜNF
    »Wo sind meine Sachen?«, schrie Cam.
    Sie riss ihre Schubladen auf, die leer waren. Nackte Kleiderbügel schaukelten im Schrank herum. Ihre Daunendecke war durch eine alte Heizdecke ersetzt worden. Das Mondrian-Bild aus Leuchtpunkten von Lite Brite, das sie aus vier Rahmen zusammengefügt hatte, war ausgestöpselt. Nur das Modell vom Sonnensystem, gebastelt in der zweiten Klasse, hing noch an der Decke, und ihre Wonder-Woman-Actionfigur, der sie einen Grasrock angezogen hatte, stand traumatisiert neben dem Magic-8-Ball auf ihrem Schreibtisch. Die Wände waren mit Konstellationen von blauer Klebemasse getüpfelt, wo ihre Poster gehangen hatten. »Was habt ihr mit den Ramones gemacht?«, rief sie. »Und mit Citizen Kane? Wo ist Tweety, verdammt nochmal?«
    »Haben wir verpackt«, sagte Perry, die hinter Alicia in der Tür erschien und den Körper ihrer Mutter strategisch geschickt als Schild benutzte.
    »Ihr habt Tweety verpackt?« Die einzige Peinlichkeit, die Cam sich leistete, bestand darin, einen Kanarienvogel namens Tweety zu halten. Der Rest der Familie war allergisch gegen Katzen und Hunde, also musste sie einen Vogel lieben. Er saß gern auf ihrer Schulter und fraß ihr aus der Hand. »Wo ist Tweety?«
    »Tweety ist in der Küche, Campbell. Wir haben gerade seinen Käfig saubergemacht. Damit er für die Reise bereit ist«, antwortete Alicia.
    »Aha, das scheint mir die fehlende Information hier zu sein. Was für eine Reise?«, wollte Cam wissen.
    »Nach Maine.«
    »Maine?«
    »Maine.« Alicia hob ein Kissen vom Boden auf und warf es aufs Bett. »Du erinnerst du dich doch an Tom, den ich beim Yoga kennen gelernt habe?«
    »Tom? Tom mit den LSD -Trips, der nicht mal weiß, was für ein Tag es ist, und wochenlang nicht duscht? Der seit Jahren an einer Rockoper schreibt und fünf Iguanas hat? Der Tom? Auf den setzen wir all unsere Hoffnungen?« Cam lehnte sich benommen an ihren Schreibtisch.
    »Tom kennt einen mystischen Ort in Maine, der für seine Heilkräfte bekannt ist. Er hat gesagt, wir sollen sofort aufbrechen, wegen irgendwas mit Saturn, der rückläufig ist.« Alicia zuckte die Achseln.
    »So tief sind wir gesunken?«
    »Nun, du willst ja nicht nach Tijuana«, entgegnete Alicia.
    So tief waren sie also gesunken. »Dann frag ich doch gleich mal den Magic-8-Ball, ja? Nur um eine klare Antwort zu bekommen.« Cam nahm ihn und fragte stumm: Wird Maine uns helfen? Der Würfel im Innern drehte sich ein Weilchen in der trüben violetten Flüssigkeit, bevor die Antwort im Sichtfenster erschien: »Frage später erneut«.
    »Was soll denn an Maine so besonders sein, Mom? Sie haben keine Heilquellen oder so was Ähnliches. Nur den Atlantik, denselben wie hier in Florida, bloß kälter. Eiskalt.«
    »Es wird dir guttun, mal rauszukommen, Cam«, sagte Perry.
    Cam schwieg. Dem konnte sie nicht widersprechen.
    Bevor ihr Vater starb, hatte sie ihm versprechen müssen, aus Florida wegzugehen. Es war ein Traum von ihm, dass sie eine der Eliteuniversitäten im Norden besuchen sollte. Sie hatten gemeinsam davon geträumt. Er wäre sehr stolz darauf gewesen, dass sie einen Platz in Harvard bekommen hatte.
    Seinetwegen war sie fast bereit, ihrer Mutter und ihrer Schwester zuzustimmen. Es konnte wirklich nicht scha den, mal eine Zeit lang aus Florida herauszukommen. Vor allem bei dieser Hitze.
    »Für wie lange?«, fragte sie.
    »Zumindest den Sommer über«, sagte Alicia. »Solange es nötig ist.«
    »Okay«, gab sie nach. »Fahren wir.« Sie schüttelte den Magic-8-Ball und stellte ihn zurück ins Bücherregal.
    »Super!« Alicia hüpfte regelrecht vor Freude auf und ab und umarmte Cam. »Der Umzugsanhänger ist schon gepackt. Wir müssen ihn morgen früh nur noch an dein Auto ankuppeln.«
    »Mein Auto wird nicht mit einem

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