Flamme der Freiheit
vorbeigebracht.
»Alles selbst bei Vollmond gesammelt und bis zum Neumond in unserer Räucherkammer getrocknet«, hatte sie ihm erklärt.
Wie ein Lauffeuer musste sich die Kunde von Riekes Unfall inzwischen im Dorf herumgesprochen haben. Mittelpunkt der brodelnden Gerüchteküche bildete Emil, der mit Wonne immer wieder und wieder den Auftritt des Unbekannten mit der verletzten Rieke auf dem Arm beschrieb. So war es auch gar nicht notwendig gewesen, nach Marie zu schicken, denn die Neugierde hatte sie von selbst zum Haus des Nachbarn und alten Freundes getrieben. Gemeinsam verfrachteten sie die tief schlummernde Rieke in ihr Bett. Eigenhändig wickelte Marie ihr den provisorischen Verband vom Knöchel und legte eine frische Kräuterkompresse auf. Rieke bekam von alldem nichts mit. Sie schlief den Schlaf der Gerechten und Erschöpften.
»Ein feines Stöffchen, echte Seide«, bewunderte Marie den Schal von Riekes edlem Retter.
»Gib her, ich schmeiß ihn gleich ins Feuer«, fuhr Prohaska auf und wollte ihr das Tuch entreißen.
»Du bist wohl verrückt geworden, so einen Schal verbrennt man doch nicht. Ich werde ihn mit nach Hause nehmen, ihn mit der Hand vorsichtig waschen und noch vorsichtiger mit dem Plätteisen glätten, nur lauwarm, damit die Falten rausgehen«, wehrte Marie ihn ab. Mit einer flinken Bewegung ließ sie das kostbare Stück in den Tiefen ihrer Schürzentasche verschwinden. »Stell dir vor, der Graf kommt wieder und möchte seinen Schal zurückhaben. Was willst du ihm dann sagen? Dass du ihn verbrannt hast?« Herausfordernd schaute sie ihn an.
»Den habe ich doch hochkantig rausgeschmissen, der kommt bestimmt nicht wieder«, behauptete Prohaska im Brustton der Überzeugung.
Marie schaute ihn an und lächelte. Es war ein mitleidiges und zugleich belustigtes Lächeln. »Da bin ich mir längst nicht so sicher wie du, Prohaska«, erwiderte sie.
»Ich bin mir da ganz sicher«, beharrte Prohaska störrisch.
»Ach, ihr Männer«, sagte Marie nur wissend und lachte. Nachdem sie ihm noch einige Ratschläge bezüglich der Versorgung der kleinen Patientin gegeben hatte, war sie im Dunkel der Vorfrühlingsnacht verschwunden.
Ludwig Prohaska hatte in seiner Küche noch eine Pfeife geraucht, ehe er sich zur Nachtruhe begab. In seinem Alter benötigte er nicht mehr viel Schlaf. Mit den allerersten Flötentönen der Amsel erhob er sich schon wieder. Während er sich in der Küche rasierte, fiel ihm die Begegnung vom Vortag wieder ein.
»Großvater, ich habe Hunger!«, kam es kläglich aus Riekes Schlafkammer.
»Warte einen Moment, ich gieß dir nur rasch einen Tee auf und mache dir einen Haferbrei fertig«, beschwichtigte er Rieke.
Aufmerksam schaute sie ihm entgegen.
»Hast du gut geschlafen?«, erkundigte er sich. Er stellte den alten Emaillebecher zum Abkühlen auf das Fensterbrett und drückte ihr die Haferbreischüssel in die ausgestreckten Hände.
»Danke, Großvater, ich habe so einen Hunger«, sagte Rieke und begann zu löffeln.
Prohaska holte sich einen Stuhl aus der Stube, stellte ihn neben das Bett und nahm darauf Platz. Minutenlang sah er ihr beim Essen zu und erfreute sich ihres guten Appetits. Zeitweilig hatte er sogar vergessen, was er sich in dieser schlaflosen Nacht vorgenommen hatte. Er wollte endlich mit ihr reden. Ehe sie eingeschult wurde, wollte er sie über ihre Herkunft aufklären. Zumindest, was ihre Mutter anbelangte, Eleonora Prohaska.
»Was ist eigentlich ein Bastard?«, unterbrach Rieke seine Gedanken.
Prohaska verschluckte sich fast. »Wie kommst du denn darauf?«, fragte er erschrocken. »Wo hast du dieses Wort denn aufgeschnappt.«
»Ein paar ältere Jungs haben es mir neulich nach dem Gottesdienst hinterhergerufen«, erzählte Rieke. »Bin ich denn ein Bastard?«
»Nein!« Prohaska schrie es fast. Erstaunt schaute Rieke ihn an.
»Die sagen, ich wäre ein Bastard, weil ich weder Mutter noch Vater habe«, fuhr sie fort.
»Du hast eine Mutter!«, widersprach Prohaska heftig.
»Und wo ist die?«, wollte Rieke wissen.
Prohaska seufzte abgrundtief. »Genau darüber wollte ich heute mit dir sprechen«, sagte er. »Du kommst jetzt in die Schule und bist auch alt genug, dass ich dir die Geschichte deiner Mutter erzählen kann.«
»O ja, Großvater, erzähl sie mir«, rief Rieke begeistert. »Ist es eine schöne Geschichte?« Erwartungsvoll schaute sie zu ihrem Großvater empor. Der räusperte sich.
»Es ist eine lange Geschichte«, erwiderte er mit belegter Stimme.
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