Flamme der Freiheit
Landlebens zu genießen. Es war gar nicht so einfach, Zugang zu diesem exklusiven Zirkel zu finden. Eine Einladung nach Neu-Prewitz war eine Auszeichnung, die Gräfin Dorothea von Prewitz zu Kirchhagen erst nach sorgfältiger Prüfung der Kandidaten und langen Erwägungen aussprach. Nach welchen Kriterien ihre Entscheidungen erfolgten, blieb ihr persönliches Geheimnis. Das Prinzip des alten Königs, »jeder nach seiner Façon«, war ihr heilig, Standesdünkel ihr ein Greuel. Dabei war die Gräfin eine hervorragende Gastgeberin. Mit diplomatischem Geschick verstand sie, Menschen verschiedenster Herkunft, Charaktere, Eigenschaften, Religionen, Anschauungen und Nationalitäten zusammenzuführen.
»Vor Gott sind alle Menschen gleich, warum dann nicht auch schon auf Erden?«, lautete ihre rhetorische Frage, eine fast ketzerische Infragestellung des herrschenden Ständestaates. Gräfin Dorothea liebte es geradezu, sich über dessen Konventionen hinwegzusetzen. Eine Folge daraus war, vor wenigen Jahren die blutjunge Eleonora Prohaska in ihrem Haushalt aufzunehmen. Nein, nicht als Scheuermagd, Dienstmädchen oder künftige Zofe, sondern als gleichaltrige Gesellschafterin für ihre beiden Enkelinnen. Zum Entsetzen ihrer Schwiegertochter ließ die Gräfin der kleinen Potsdamerin die gleiche Erziehung angedeihen wie den jungen Komtessen.
Charlotte und Sophie hatten ihre neue Gefährtin selbstverständlich akzeptiert, während ihre Mutter Elisabeth sich auch nach Jahren immer noch nicht mit der ständigen Anwesenheit einer »Person nicht standesgemäßer Herkunft« abgefunden hatte. Schließlich war sie doch nur die Tochter eines einfachen Unteroffiziers. Entsprechend pikiert war sie natürlich, als Maestro Farini Eleonora die Rolle der Eurydike überließ.
»Je suis désolé, Madame, Ihre beiden Töchter haben entzückende Stimmen, deren Umfang aber nicht für diese Partie ausreicht«, hatte der Hofkapellmeister seine Entscheidung höflich, aber bestimmt Gräfin Elisabeth gegenüber begründet.
Trotz persönlicher Eitelkeiten verfügte diese glücklicherweise über die Einsicht, selbst überhaupt nicht für diese Partie in Frage zu kommen. Gräfin Elisabeth war absolut unmusikalisch. Jahrzehnte nach der Einheirat in die hochmusikalische Sippe der Prewitzens gestaltete sich dies für sie noch immer quälend.
Ganz im Gegensatz zu Eleonora. Mit zwölf Jahren, auf der Schwelle vom Kind zum jungen Mädchen, war sie im Hause Prewitz aufgenommen worden. Nach einer dreitägigen Bedenkzeit hatte sich ihr Vater tatsächlich zu der Erkenntnis durchgerungen, die Zukunft seiner begabten Tochter nicht mit einem Veto verbauen zu dürfen. Die Gräfin hatte recht, er konnte Eleonora nichts mehr beibringen. Nachdem er sie aus dem Potsdamer Waisenhaus zurück nach Hause geholt hatte, erteilte er ihr einige Monate Flötenunterricht. Aber erst der Kantor der Nikolaikirche hatte Eleonoras außergewöhnliche Stimme entdeckt und ihr den Solopart einer Bachkantate zugesprochen.
Gräfin Dorothea sorgte dafür, dass sich Prohaska und seine Tochter auch weiterhin regelmäßig sahen. In den Wintermonaten, die sie meist im Berliner Palais in der Nähe des Berliner Stadtschlosses verbrachten, bot sich ihnen genügend Zeit und Gelegenheit, einander nicht fremd zu werden.
So war Prohaska selbstverständlich zu der heutigen Aufführung eingeladen. Da einer der Trompeter des Hoforchesters sich den Mittelfinger brach, hatte ihn Maestro Farini kurzerhand als Ersatz angeheuert. Der temperamentvolle alte Herr hatte sogar einige lobende Worte für den Kriegsveteranen übrig, Balsam auf die Seele eines verhinderten Künstlers, der seit Jahr und Tag sein kärgliches Dasein mit schlecht bezahltem Musikunterricht fristete.
Wie gerne wäre auch Vater ein richtiger Künstler geworden, hätte er doch niemals in den Krieg ziehen müssen, dachte Eleonora an diesem Morgen. Er wird genauso aufgeregt sein wie ich. Mit behender Leichtigkeit schwang sie ihre Beine über die Bettkante. Sie bewohnte eines der Zimmer im ersten Stock, deren hohe Sprossenfenster direkt auf die großflächige Terrasse vor dem mittleren Schlossflügel zeigten. Dahinter erstreckte sich der Park von Schloss Neu-Prewitz, der in einem welligen Waldgelände endete. Eleonora reckte sich, streckte die Arme weit von sich, erhob sich auf die Zehenspitzen und atmete durch. Ganz tief, genau so, wie es sie Maestro Farini gelehrt hatte.
Eleonora liebte den kleinen alten Italiener, dessen Temperament ihn zu
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