Flamme der Freiheit
aus reiner Seide sein.
»Du sollst sitzen bleiben. Hast doch gehört, was der Graf gesagt hat, du hast einen verletzten Knöchel«, donnerte der Großvater prompt. Wie rasch er zur gewohnten Energie und Stärke zurückgefunden hatte. »Ich werde gleich mal nach Marie schicken, die kennt sich mit so was aus. Sie wird dir das rechte Kraut auf den Knöchel legen, sie hat bestimmt die richtige Medizin.«
»Erst wirfst du ihn raus, dann soll ich tun, was er gesagt hat. Du bist komisch, Großvater.« So schnell war Rieke nicht der Mund zu stopfen.
»Du bist wirklich ein Fräulein Naseweis.« Unwillkürlich musste er lachen. »Willst immer alles wissen und meinst schon klüger als dein oller Opa zu sein.«
»Das stimmt doch gar nicht, Großvater«, erwiderte Rieke gekränkt. »Ich möchte nur wissen, warum du so unhöflich zu dem Grafen warst und ihn sogar weggeschickt hast.«
»Jetzt zeig mir erst mal deinen Knöchel«, versuchte Prohaska seine Enkelin abzulenken. Schwerfällig erhob er sich von seinem Stuhl und beugte sich über das bandagierte Bein. »Sieht wirklich gar nicht so schlecht aus. Vom Bandagieren scheint er ja was zu verstehen«, musste er zugeben. »Sollte er ja aber mittlerweile auch, nach all diesen Feldzügen, die er in den vergangenen Jahren mitgemacht hat«, murmelte er in sich hinein. Gespannt hatte Rieke ihren Großvater beobachtet und noch aufmerksamer zugehört.
»Du bist gar nicht mehr so blass wie eben. Was hattest du überhaupt?«, wollte sie nun wissen. »So aufgeregt habe ich dich noch niemals vorher gesehen. Und wie du gezittert hast.«
Prohaska brummelte unwillig.
»Warum weißt du so viel über den Grafen?«, setzte Rieke nach. »Warum weiß er nichts über dich?« Ihr kam das alles sehr merkwürdig vor. Nachdenklich runzelte sie die Stirn. Genau wie Eleonora. Es war schon verblüffend, wie sie ihrer Mutter in manchen Momenten ähnelte. Aber heute hatte Prohaska eine weitere Ähnlichkeit feststellen müssen, die ihn zutiefst bestürzte.
»Ach, Riekekind!«, seufzte Prohaska. Schwerfällig ließ er sich neben ihr auf dem Sofa nieder, legte den Arm um ihre Schultern und zog sie an sich. Ermattet kuschelte Rieke sich an ihn. Sie war auf einmal unheimlich müde. Es war wirklich ein aufregender, anstrengender Tag gewesen. Mittlerweile begann es draußen schon zu dämmern. Im kahlen Birnbaum hinten auf der Wiese stimmte eine Amsel ihr Abendlied an. Sie schien mit aller Kraft gegen den Einbruch der Dunkelheit tirilieren zu wollen.
Riekes Augenlider wurden schwerer und schwerer. Ihr Kopf fiel an die Brust des Großvaters. Hinter dem rauhen Zwirn seiner Weste klopfte es stet und zuverlässig, so wie sie es ihr Leben lang gewohnt war. Wie oft war sie auf Großvaters Schoß eingeschlafen, den Kopf an seine Brust gelehnt, umhüllt vom Tabakdunst seiner kleinen Pfeife, eingelullt von seinem Räuspern, dem Rascheln der Zeitung oder dem feinen Geräusch beim Blättern der Seiten, wenn er in der alten Bibel las.
»Warum komme ich ihm so bekannt vor?«, murmelte Rieke schläfrig. Großvaters tiefen Seufzer hörte sie schon nicht mehr.
Die Amsel, die Rieke am Abend zuvor in den Schlaf geflötet hatte, begleitete am nächsten Morgen ihr Erwachen. Die Sonne schien sich heute selbst übertreffen zu wollen und tauchte ihre kleine Kammer in ein goldenes Licht. Eigentlich war es ja mehr ein Alkoven als ein richtiges Zimmer. Großvater hatte ihr selbst ein passendes Bett gezimmert. Ursprünglich hatte Rieke gar nicht verstanden, warum sie nun auf einmal nicht mehr bei Großvater im selben Zimmer schlafen sollte.
»Aber Riekekind, siehst du nicht selbst, dass das alte Kinderbett mittlerweile viel zu klein für dich geworden ist. Wie oft hast du dich schon oben mit dem Kopf angestoßen oder deine langen Beine zwischen den Gittern rausgestreckt.«
»Das macht doch nichts, ich kann mich doch auch einrollen und habe dann wieder genug Platz«, wehrte sich Rieke gegen den Auszug aus dem vertrauten Raum.
»Wie oft hast du dich in den letzten Monaten beschwert, dass ich zu laut schnarche und du davon wach geworden bist. Wenn du jetzt bald ein Schulkind sein wirst, brauchst du deinen ungestörten Schlaf, damit du in der Schule aufpassen kannst und richtig was lernst.« Prohaska wusste schon, wie er seine Enkelin überzeugen konnte. Rieke war von einer schon fast beängstigenden Lernbegierde. Wie ein Schwamm sog sie alle Neuigkeiten und Informationen in sich auf, um sie für sich zu verarbeiten und die
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