Flamme der Freiheit
Erwachsenen irgendwann mit ihren eigenen Erkenntnissen und Schlussfolgerungen nicht nur zu überraschen, sondern geradezu zu verblüffen.
Der Pfarrer im Kindergottesdienst hatte es schon längst mitbekommen und setzte Rieke nur zu gerne bei Krippenspielen und sonstigen Aufführungen ein. Dabei musste er sich fast mit Gewalt gegen ihren Großvater durchsetzen, bis dieser endlich seine Erlaubnis erteilte, dass Rieke eine wichtige Rolle übernahm.
»Ich habe meine Gründe, ich habe schwerwiegende Gründe, ich will nicht, dass sich das Kind so in die Öffentlichkeit stellt«, sagte er immer nur wieder.
»Herrgott, Prohaska, was ist das denn für eine Öffentlichkeit, wenn Rieke im Weihnachtsgottesdienst den Verkündigungsengel und einen Hirten spielt? Unsere kleine Kirche fasst gerade einmal zweihundert Besucher, das ist doch keine große Öffentlichkeit. Etwas anderes wäre, wenn sie in der Potsdamer Nikolaikirche aufträte«, versuchte Pfarrer Gramkow ihn zu überzeugen. Prohaska war bei seinen letzten Worten zusammengefahren. »Was haben Sie denn plötzlich?«, erkundigte er sich verdutzt. »Womit habe ich Sie so erschreckt, Prohaska, habe ich etwas Falsches gesagt?«
»Schon gut, schon gut, denn lassen Sie meine Rieke mal den Hirten und den Erzengel Michael spielen«, murmelte Prohaska. Mit fahrigen Händen glitt er sich durch die Haare, strich eine graue Strähne aus der Stirn und wich dem forschenden Blick des Pfarrers aus. Dieser ließ ihn jedoch nicht aus den Augen.
»Ich ahne schon lange, dass es um Ihre Enkelin ein Geheimnis gibt«, sagte er zögernd. »Ihre Rieke ist etwas Besonderes. Sie ist nicht wie die anderen Kinder. Das habe ich von der ersten Sekunde an gespürt. Mit drei Jahren saß sie schon hellwach bei meiner Frau im Kindergottesdienst. Sie hat sie sehr ins Herz geschlossen. Auch unser Kantor freut sich schon richtig darauf, Rieke zum neuen Schuljahr in der Bank der ersten Klasse sitzen zu haben.«
Prohaska staunte. Wohlweislich versuchte er doch seit Jahr und Tag seine Enkelin von der Außenwelt abzuschotten. Aber als tiefgläubiger Christ war es ihm wiederum ein Herzensanliegen, seiner Enkelin den Weg zu Religion und Glauben aufzuzeigen. Dazu gehörte nun einmal der regelmäßige Besuch des Gottesdienstes. Er selbst saß doch auch jeden Sonntagmorgen pünktlich um zehn Uhr auf der harten Kirchenbank, sang mit brummendem Bass die ihm vertrauten Lieder und lauschte aufmerksam der Predigt seines Pfarrers.
Wie sehr hatte er sich gewünscht, Eleonora eines Tages in dieser Kirche einmal vor dem Traualtar zu sehen. Wie gerne hätte er den Brautführer gespielt und sie im weißen Brautkleid ihrem künftigen Ehemann zugeführt.
Aber Eleonora war ihm niemals so richtig nahe gewesen. Damals, als er 1792 in den Krieg zog, war sie noch ein kleines Kind gewesen. Als er zurückkehrte und sie samt ihrem Bruder sofort aus dem Potsdamer Waisenhaus geholt hatte, war Eleonora ein verschlossenes, fast verstörtes Kind gewesen. Sie schien zwar froh, dem Drill und der Lieblosigkeit des Heims entronnen zu sein, war aber nicht fähig, dem Vater ihre Dankbarkeit zu zeigen. Richtig kennengelernt hatten sie einander eigentlich nie.
Ihre eigene Mutter hatte Eleonora gehasst. Die hatte sich nie um die Kinder gekümmert, sondern verbrachte die meiste Zeit des Tages am Tresen des Dorfkrugs, wo sie als Kellnerin arbeitete. Fast jeden Abend oder spät in der Nacht kam sie angetrunken nach Hause, häufig in Begleitung eines genauso betrunkenen Soldaten. Beide nahmen keinerlei Rücksicht auf die in der Stube schlafenden Kinder. Wie oft hielt sich Eleonora die Ohren zu, kniff die Augen ganz fest zusammen und zog sich Kissen und Bettdecke über den Kopf. Aber das abstoßende Stöhnen, Wimmern und Ächzen des betrunkenen Paars war nicht zu überhören.
Eleonora fand das, was sich zwischen Mann und Frau abspielte, widerlich und abstoßend. So war sie zunächst mehr erleichtert, von ihrer Mutter mit ihrer jüngeren Schwester und dem älteren Bruder in das Potsdamer Waisenhaus abgeschoben zu werden.
Dabei war sie vom Regen in die Traufe gekommen. Schwestern und Bruder wurden getrennt. Die Schlafsäle waren riesig und kalt, die Betten hart und unbequem, das Essen karg, wenig abwechslungsreich und manchmal kaum genießbar. Aber was auf den Teller kam, musste auch aufgegessen werden, sonst setzte es etwas.
Es setzte häufig etwas. Der Rohrstock war ein höchst gebräuchliches Erziehungsmittel, auch im Unterricht. Die Lehrer
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