Flamme der Freiheit
»Ich werde einige Tage benötigen, um sie dir ganz zu erzählen.«
»Wir haben ja bis Ostern Zeit, so lange muss ich im Bett liegen, hat Marie gestern gesagt«, erklärte Rieke eifrig. Sie klopfte auf ihre Bettkante. »Komm, setz dich richtig nah zu mir, damit ich dir besser zuhören kann.«
»Einen Augenblick, ich bin gleich wieder da«, entgegnete er. »Ich muss nur noch etwas holen.«
Er erhob sich, ging in die Stube und zog die unterste Schublade der dort stehenden Kommode auf. Ganz tief unten hatte er den Brief versteckt. Er hatte ihn bisher nur ein einziges Mal gelesen.
Prohaska hatte Graf Alexander sofort wiedererkannt, auch wenn mittlerweile schon etliche Jahre zwischen ihrer letzten und der gestrigen Begegnung lagen. Er rechnete nach. Sechzehn Jahre war es her, dass er ihn am Hofe seiner Großmutter gesehen hatte, Seite an Seite mit seiner geliebten Tochter. Nebeneinander standen Eleonora und Alexander auf der Bühne, sangen mit Inbrunst von Liebe und Leid, stellten die perfekte Verkörperung des Liebespaars Orpheus und Eurydike dar. Fast geplatzt wäre er damals vor Stolz und Freude ob der herausragenden gesanglichen Leistung seiner blutjungen Eleonora. Natürlich klatschte er wie alle anderen Zuschauer begeistert Beifall. Er war noch am Applaudieren, als wie aus dem Nichts ein Diener des Hauses vor ihm stand und sich vor ihm verneigte.
»Frau Gräfin lassen zu sich bitten«, sagte er gemessen und bedeutete, ihm zu folgen. Unter den verstohlenen, teilweise aber wohlwollenden und anerkennenden Blicken der adeligen Gesellschaft durchschritt Prohaska den Gartensaal von Schloss Sophienhof.
»Nun, mein lieber Prohaska, ist das nicht ein unglaublicher Triumph für Sie?«, empfing ihn die Gräfin. »Nun werden Sie es bestimmt nicht mehr bereuen, Ihre Tochter vor fünf Jahren meiner Obhut überlassen zu haben.«
»Nein, Erlaucht, wie könnte ich dies jemals bereuen«, erwiderte Prohaska höflich und verneigte sich formvollendet. Er wusste schon, wie man sich in höchsten Kreisen bewegte und ausdrückte. Mit dem Schliff beim Militär hatte man ihm auch Manieren eingebleut.
»Nehmen Sie Platz, mein Lieber«, lud ihn Gräfin Dorothea ein und wies mit ihrem Fächer auf einen neben ihr stehenden leeren Stuhl. Prohaska gehorchte. »Sind Sie denn wenigstens stolz auf Ihre Tochter?«, wollte sie wissen.
»So stolz, dass es mir fast das Herz zu sprengen drohte«, gestand Prohaska aufrichtig.
»Nicht nur Ihnen, Prohaska, nicht nur Ihnen«, pflichtete ihm die Gräfin bei. Sie klappte ihren Fächer auf und begann zu fächeln. »Ich muss Ihnen gestehen, ich habe bei dem großen Duett sogar geweint.« Über den Rand des Fächers warf sie ihm einen koketten Blick zu. Sie mochte Anfang siebzig sein, aber sie wusste noch ganz genau, wie ein Mann in Wallung zu bringen war.
Prohaska stieg das Blut zu Kopfe. Diese spontane Reaktion überraschte ihn selbst. Bisher hatte er in Gräfin Dorothea immer nur die Gräfin, eine hohe preußische Adlige, aber niemals eine Frau gesehen. Sie musste einmal eine sehr schöne Frau gewesen sein. Aber war sie es nicht immer noch? Mit ihren feinen Zügen, der glatten Haut und einer mädchenhaft schmalen Taille. Das Alter war bislang sehr gnädig mit ihr umgesprungen. Wenn sie wollte, konnte sie immer noch einen unwiderstehlichen Charme entfalten. Neben ihr wirkte Schwiegertochter Gräfin Elisabeth stets wie eine unförmige Matrone, die mit ihrem Gatten die Neigung zur Korpulenz teilte. Darin kam Wilhelm wiederum nach seinem Vater, den man auch leicht mit Friedrich Wilhelm II . hätte verwechseln können, von seinen Untertanen liebevoll spöttisch auch »dicker Willem« oder »dicker Lüderjahn« genannt.
Die Gräfin und der ehemalige Feldwebel schwiegen. Sie beobachteten die Tanzenden, die sich im Takt der Musik wiegten. Eleonora und Alexander waren beide nicht zwischen ihnen zu entdecken.
»Großvater, wo bleibst du denn?«, rief es ungeduldig aus dem Nebenzimmer.
»Ich komme ja schon«, rief er zurück. Er hatte den Brief aus der Schublade genommen. Beim Aufrichten fiel sein Blick auf die hohe Vase, in der schon ein österlicher Strauß aus Haselnuss- und Forsythienzweigen steckte. Kurz entschlossen nahm er die Vase mit. Ganz vorsichtig stellte er sie auf die Fensterbank von Riekes winzigem Zimmer. Verwundert beobachtete sie ihn dabei.
»Warum stellst du die Vase da hin, ist sie nicht viel zu wertvoll, um bei mir auf der Fensterbank zu stehen?«, fragte sie.
»Sie ist wertvoll, sogar
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