Flammen im Sand
Schneiderei zu eröffnen. Mit Jannesâ Hilfe ist es ihnen endlich
gelungen. Oder besser ⦠Yvonne ist es gelungen.« Frau Kemmertöns widersprach
nicht, als Mamma Carlotta ihr eine Scheibe Pfefferfleisch auflegte. »Wie man
hört, ist das ein groÃes Problem für Geraldine, dass sie die Angestellte ihrer
Schwester ist. Sie wäre gerne Miteigentümerin geworden, aber das hat Jannes
verhindert.«
Mamma Carlotta schüttelt den Kopf. »Sie meinen also, Yvonne Perrette
bleibt bei diesem ⦠diesem schrecklichen Kerl, weil sie ihr Modeatelier nicht
aufgeben will?«
Frau Kemmertöns nickte. »Und ich kann verstehen, dass sie versucht,
trotz allem mit Geraldine auszukommen. Sie kann doch ihrer eigenen Schwester
nicht einfach kündigen!«
Erik und Sören machten aus ihrer Enttäuschung keinen Hehl,
als sie hörten, dass Mamma Carlotta nicht mehr mit ihnen gerechnet hatte. »Die
gefüllten Artischocken sind alle. Felix hat zwei gegessen und Frau Kemmertöns
die letzte.«
»Frau Kemmertöns?« Erik konnte es nicht glauben. Seit Jahrzehnten
lebte er nun schon mit dem Ehepaar Kemmertöns Tür an Tür, aber noch nie hatte
er mit seiner Nachbarin mehr als ein paar Sätze übers Wetter oder den Zustand
des Gartens geredet. Dass sie in seinem Haus zu Besuch gewesen war und ihm
sogar die Vorspeise weggegessen hatte, überraschte ihn dermaÃen, dass er nicht
einmal wusste, ob er sich über die neue Qualität der nachbarschaftlichen
Verhältnisse freuen sollte.
»Ich habe ihr auch von den Tortelloni angeboten«, verteidigte Mamma
Carlotta sich. »Konnte ich ahnen, dass ihr so spät noch zum Mittagessen kommen
würdet?«
Frau Kemmertöns musste einen guten Appetit gehabt haben. Was Erik
und Sören auf den Teller gelegt wurde, war nicht der Rede wert. »Aber von dem
Pfefferfleisch hat sie nicht viel gegessen«, versicherte Mamma Carlotta und
machte sich unauffällig daran, die Sauce durch zusätzliche Brühe und einen
guten Schuss Sahne zu verlängern, weil viel Sauce auf dem Teller den Eindruck
vermittelte, dass sie viel Fleisch zu verdecken habe. Dann hielt sie es für angebracht,
durch interessierte Fragen von der kargen Mittagsmahlzeit abzulenken. »Gibt es
schon wieder einen Mord? Habt ihr einen Toten gefunden, Enrico? Konntet ihr
deshalb nicht pünktlich zu Tisch kommen?«
Erik winkte ab. »Nein, nein, nur â¦Â« Ihm fiel so schnell nichts ein,
was einerseits in etwa der Wahrheit entsprach, aber andererseits seine
Schwiegermutter weder erschreckte noch ihre Neugier wachrief.
»Nur ein Gerippe«, ergänzte Sören, der gelegentlich erschreckend
unsensibel war.
Mamma Carlotta sah ihn entsetzt an, dann lachte sie zu Eriks groÃer
Erleichterung. »Bestimmt nur ein SpaÃ! Wenn ich daran denke, was wir früher alles mit dem Skelett aus dem Biologieunterricht
angestellt haben! Einmal haben wir es unserem Lehrer ins Bett gelegt.« Sie
schlug die Hand vor den Mund, um das Lachen zurückzudrängen, das ihr plötzlich
unangemessen erschien. »Das war drei Monate nach dem Tod seiner Frau. Madonna!
Wie grausam Bambini sein können! Das hat vielleicht ein Theater gegeben! Zum
Glück hat sich nie herausgestellt, wer der Ãbeltäter gewesen war!«
Erik war froh, dass sie nicht weiter an dem Thema interessiert war,
sondern eine Neuigkeit parat hatte, die das Auffinden eines Skeletts an
Sensationswert bei Weitem übertraf.
»Hat Frau Kemmertöns etwa einen Nachbarn dabei erwischt, wie er
Abfall unter die Biikezweige gelegt hat?«, fragte er grinsend.
Er hatte Glück. Seine Schwiegermutter dachte nicht mehr an das
Skelett, sie sah ihn mit gerunzelter Stirn an und fragte: »Biikezweige? Cosâè
questo? Was ist das?«
Erik hatte nun Gelegenheit, Mamma Carlotta ausgiebig von der
Tradition des Biikebrennens zu erzählen, das in wenigen Tagen stattfinden
würde. An verschiedenen Stellen der Insel hatte man schon damit begonnen, die
Biiken aufzuschichten. »Am 21. Februar werden sie angezündet. Das sind riesige
Feuer mit haushohen Flammen. Von See muss es aussehen, als würde die ganze
Insel brennen.«
»Wie Flammen im Sand«, ergänzte Sören, der schon mal auf dem
Fischerboot eines alten Onkels gewesen war, als die Biikefeuer abgebrannt
wurden.
Erik bestaunte diese poetische Formulierung, und damit war das
Skelett tatsächlich
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