Flammen über Arcadion
schöner Tag, um zu leben , dachte Carya. Ihr selbst blieb keine Stunde mehr, um ihn zu genießen.
Die Hände und Füße gefesselt, stand sie gemeinsam mit ihren Eltern im Innenhof des Tribunalpalasts und wartete darauf, dass die offene Kutsche vorfuhr, die sie zum Quirinalsplatz bringen sollte. Der brennende Zorn, der sie noch in der Richtkammer erfüllt hatte, war verraucht. Zurückgeblieben war ein kaltes, totes Gefühl in ihrem Inneren und die schreckliche Erkenntnis, dass es vorbei war. Ihr Leben war vorbei. Jonan war nicht gekommen, um sie zu retten. Und alle Wahrscheinlichkeit sprach dagegen, dass er noch kommen würde. Aus irgendeinem Grund hatte er es nicht geschafft. Vielleicht hatten ihn die Mutanten für den Angriff auf ihr Dorf umgebracht. Vielleicht war er auf dem Weg nach Arcadion von überlebenden Mitgliedern der Motorradgang getötet worden. Oder der Lux Dei, dessen Spione überall lauerten, hatte ihn bei dem Versuch erwischt, sich nach Arcadion einzuschleichen.
In der Ferne vernahm Carya das warnende Heulen einer Sirene. Seltsamerweise klang sie überhaupt nicht wie die Brandglocken der Feuerwehr von Arcadion. Was mochte das bedeuten? Fragend schaute sie zu ihren Eltern hinüber.
»Das ist ein Alarm«, murmelte ihr Vater. »Bei der Kaserne am Nordtor.«
»Ruhe!«, knurrte einer der Gardisten, die sie bewachten.
Durch den Torweg des Palasts kam ein Motorradbote in den Hof gerast. Er stellte seine Maschine ab und eilte in den Westflügel. Etwa fünf Minuten später kam er wieder heraus und fuhr im Eiltempo davon. Es dauerte keine weiteren fünf Minuten, bis Großinquisitor Aidalon und sein Gefolge erschienen. »Warum stehen die Verurteilten noch hier?«, herrschte der Großinquisitor die Wachen an. »Sie sollten schon auf dem Weg zur Richtstätte sein.«
»Die Kutsche wird noch angespannt, Signore«, sagte einer der Männer. »Sie sagten, wir würden um halb neun von hier losfahren.«
»Und nun sage ich, wir fahren unverzüglich«, rief Aidalon aufgebracht. Er hob die Stimme. »Man bringe meinen Motorwagen!«
Sofort kam Bewegung in den Fahrer, der neben dem geparkten Fahrzeug am anderen Ende des Hofes gewartet hatte. Er sprang hinters Lenkrad, startete den Motor und steuerte den Wagen in einer Schleife auf sie zu, sodass der Großinquisitor bequem einstiegen konnte. Ein Soldat öffnete ihm die Tür.
Carya fiel auf, dass der Wagen derselbe war, mit dem Rajael und sie seinerzeit aus dem Tribunalpalast geflohen waren. Eifrige Hände hatten versucht, die Schrammen und Beulen der rasanten Flucht zu reparieren. Ganz so glanzvoll wie damals wirkte er trotzdem nicht mehr. Ich habe einen Makel auf deiner hübschen Hülle hinterlassen, Aidalon , dachte Carya. Und diesen Makel wirst du nie mehr los. Es war nur ein kleiner Triumph an diesem schmerzhaft schönen Morgen, aber er bereitete Carya außerordentliche Befriedigung.
Aidalons Motorwagen verließ den Hof, und direkt hinter ihm kam nun auch die offene Gefangenenkutsche in Bewegung. Sie hielt vor Carya und ihren Eltern, und die Gardisten trieben sie auf die Ladefläche. Zwei gerüstete Templer stellten sich auf die Trittbretter der Kutsche. Hinter ihnen saßen derweil vier Wachen auf ihre Pferde auf, um den Transport zu begleiten. Langsam machte sich der Konvoi auf den Weg zum Quirinalsplatz.
Im Grunde war es nur ein Katzensprung bis dorthin. Die Strecke maß keinen Kilometer. Aber genau wie der Prozess war auch diese Hinrichtung eine reine Schau für die braven Bürger Arcadions. Sie sollte ihnen die Möglichkeit geben, einen Blick auf die Verurteilten zu werfen, mit dem Finger auf die »Verräter« zu zeigen und sich mit ihrer eigenen Treue dem Lux Dei gegenüber zu brüsten. Der Konvoi bewegte sich nur im Schritttempo voran, auch wenn Carya das Gefühl hatte, dass Großinquisitor Aidalon seinen Fahrer am liebsten zur Eile gedrängt hätte.
Der Funke Hoffnung, der in ihrer Brust verblieben war, loderte zu einem kleinen Flämmchen auf. Hingen der Alarm in der Kaserne und die Nervosität Aidalons zusammen? Marschierte Jonan an der Spitze einer Armee auf Arcadion zu, um sie zu holen, ein strahlender Ritter auf einem weißen Ross? Jetzt verfällst du völlig dem Wahn , schalt sich Carya. Strahlende Ritter, die in letzter Sekunde herbeieilten, gab es nur in den Romanen, die sie heimlich mit Rajael in deren Dachkammer gelesen hatte. Die Wirklichkeit war kälter und grausamer, und sie verhieß ihr den Tod.
Ich muss was unternehmen! Ich muss
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