Flammen über Arcadion
ihre Freundin auf den Aureuswall zu.
Nach wie vor diente die meterhohe Steinmauer dem Schutz Arcadions. Im Abstand von etwa fünfhundert Metern existierten bemannte Wachtürme, und an den vier Stadttoren waren Einheiten der Stadtwache postiert. Die Zeiten, in denen zu jeder Tages- und Nachtzeit gut drei Hundertschaften an Uniformierten im Dienste des Lux Dei den gut fünfundzwanzig Kilometer langen Rundwall patrouilliert hatten, waren allerdings schon vor Caryas Geburt vorbei gewesen.
Dementsprechend waren die Treppenaufgänge zum Wehrgang auf der Mauerkrone auch nicht mehr abgesperrt. Zwar wurde es nicht gerne gesehen, wenn sich die Bürger Arcadions dort oben herumtrieben, aber gerade auf Jugendliche übten die zahlreichen Plätze auf der Mauer, von denen aus man einen Blick auf das umliegende Ödland und die sich daran anschließende Wildnis werfen konnte, einen unwiderstehlichen Reiz aus. Daher stiegen immer wieder Einzelne oder kleine Grüppchen auf den Aureuswall hinauf. Die verbliebenen Stadtwachen nahmen es stillschweigend hin, solange die jungen Leute nicht versuchten, in die Wachtürme einzudringen oder an Seilen außen die Mauer hinunterzuklettern – eine Mutprobe, die unter halbwüchsigen Jungen trotzdem sehr beliebt war.
Carya und Rajael betraten den vor ihnen liegenden Treppenturm, der sich an die Innenseite des Walls schmiegte und erklommen die steile Wendeltreppe hinauf zur Mauerkrone. Oben angekommen liefen sie zwischen den beiden mächtigen Zinnenreihen entlang nach Norden. Rechts von ihnen ragten die gewaltigen Luftabwehrbatterien auf, links hätten sie, wenn sie sich reckten und durch die Zinnenscharten der Mauer lugten, in die Gärten der wohlhabenden Bürger Arcadions blicken können.
Ihr Lieblingsplatz lag an der nordöstlichen Ecke des Aureuswalls, der an dieser Stelle einen weiten Bogen über die Kuppe des Pinciohügels schlug. Onkel Giac hatte Carya mal erzählt, dass der Hügel vor den Dunklen Jahren ein Park gewesen war, der den Bürgern der Stadt zur Erholung gedient hatte. Doch von den einst so zahlreichen Bäumen, Wasserbecken und Parkwegen war kaum mehr etwas zu sehen. Alles Gelände unmittelbar vor der Mauer war gerodet und freigeräumt worden, um es Angreifern unmöglich zu machen, sich ungesehen der Stadt zu nähern.
Jenseits davon erstreckte sich das sogenannte Ödland. Von Gestrüpp überwucherte Ruinen von Wohnvierteln und Industrieanlagen, die einst zu der Stadt gehört hatten, aus der Arcadion erwachsen war, ragten dort auf. Meist waren nur noch Grundmauern zu sehen oder einzelne Gebäudeteile, die sich wie die Knochen riesiger Tiere in den Himmel erhoben. Der Sternenfall und die Dunklen Jahre hatten die Landschaft vollkommen verheert, und bislang gab es nur sehr zögerliche Versuche, diesen Trümmergürtel, der sich um die ganze Stadt erstreckte, oder die dahinter liegende Wildnis, die heute Tieren, Mutanten und Banden von Ausgestoßenen gehörte, zurückzuerobern.
Doch obschon das Ödland dort draußen eigentlich nichts als Gefahr und Ungemach bot, übte es einen enormen Reiz auf viele jüngere Bewohner Arcadions aus. Einige Jungen aus Caryas Klasse prahlten heimlich damit, Ausflüge in die Ruinen unternommen zu haben. Sie behaupteten sogar, einer Gruppe Mutanten begegnet und erfolgreich entronnen zu sein, die sie verfolgt hatte, um sie zu fressen. Carya hielt das für Geschwätz.
Sie selbst wurde vor allem von einem wohligen Schaudern ergriffen, wann immer sie den Blick über die Wildnis schweifen ließ. Es war eine Welt voller Geheimnisse, gefährlich und wundersam, die sich zu ihren Füßen erstreckte, und manchmal malte sie sich aus, wie es wohl sein möge, zwischen diesen verfallenen Relikten der einstigen Menschheit umherzustreifen. Natürlich wäre sie freiwillig niemals außen an der Stadtmauer hinuntergeklettert. Sie ging lieber von hoch oben, aus der Sicherheit des Aureuswalls heraus, auf gedankliche Abenteuerreise.
Rajael schien dagegen stets von einer stillen Sehnsucht und Melancholie erfüllt zu sein, wenn sie beide beisammensaßen und aufs Land hinaus schauten. Als Carya sie einmal darauf angesprochen hatte, war Rajael ihr die Antwort zunächst schuldig geblieben. Erst später hatte sie ihr gebeichtet, dass sie die Menschen beneide, die vor dem Sternenfall gelebt hatten.
»Warum?«, hatte Carya verständnislos gefragt.
Rajael hatte sie verträumt angeschaut. »Weil sie freier waren als wir. Weil ihre Welt nicht durch eine Mauer begrenzt wurde.«
So
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