Flammen über Arcadion
ganz hatte Carya die Worte der Freundin damals nicht nachvollziehen können.
Rajael und sie passierten einen Wachturm und erreichten die weit geschwungene Nordostkurve der Stadtmauer. Vor ihnen kam ihr gemeinsamer Aussichtspunkt in Sicht, eine Mauernische unterhalb einer Zinnenscharte, in der man zu zweit Platz hatte, wenn man eng zusammenrückte. Der Aureuswall war kein auf dem Reißbrett entworfenes Konstrukt, sondern in großer Hast und nicht immer gänzlich planvoll entstanden. Kleine architektonische Ungenauigkeiten wie diese Nischen fanden sich überall entlang seines kilometerlangen Verlaufs.
Die beiden Mädchen ließen sich nebeneinander nieder und lehnten sich an den kühlen Mauerstein. Rajael winkelte die Beine an, zog die Knie an die Brust und schlang die Arme darum. Ihr Gesicht war vom Laufen gerötet; Carya musste ähnlich aussehen, so außer Puste, wie sie sich fühlte. Einen Moment lang sprachen sie kein Wort, sondern versuchten erst einmal, zu Atem zu kommen.
Schließlich nickte Carya Rajael zu. »Also, nun sag schon. Was ist passiert?«
Rajaels Miene verzog sich schmerzerfüllt. »Tobyn«, erwiderte sie stockend. »Sie haben Tobyn.« Bei der Erwähnung seines Namens traten ihr frische Tränen in die Augen.
Carya spürte, wie sich ihre Eingeweide zusammenzogen. »Wer?«, fragte sie, auch wenn sie argwöhnte, die Antwort bereits zu kennen. So panisch, wie Rajael wirkte, kamen nicht besonders viele Gruppen in Arcadion in Frage.
Rajael schniefte. »Die Schwarzen Templer«, erwiderte sie. »Die Garde des Tribunalpalasts.«
Genau das hatte Carya befürchtet. »Aber warum? Hat es irgendetwas mit seinem eigenartigen Verhalten gestern im Café zu tun? Er ist so überstürzt verschwunden … «
»Ja, er steckt schon seit ein paar Tagen in Schwierigkeiten«, sagte Rajael nickend. »Sie haben ihm nachgestellt, musst du wissen. Also, nicht ihm direkt, aber ein paar Leuten, mit denen er zu tun hatte. Und letzte Nacht haben sie ihn und die anderen erwischt.«
»Aber was, um Himmels willen, haben sie sich denn zuschulden kommen lassen?«, wollte Carya wissen. »Einfache Schmuggler werden nicht von den Schwarzen Templern gejagt.« Ihr kam ein schrecklicher Gedanke. »Sag nicht, dass er ein Terrorist oder ein Agent des Ketzerkönigs ist.«
»Nein, natürlich nicht!« Rajael schüttelte vehement den Kopf. »Nein, er ist … « Sie stockte und schloss kurz die Augen. Offenbar fiel es ihr schwer, über das zu sprechen, was sie wusste.
»Rajael.« Carya beugte sich etwas nach vorne. »Was geht hier vor? Unten auf der Straße hast du gesagt, dass du meine Hilfe bräuchtest und dass die Zeit dränge. Ich will dir gerne beistehen, aber du musst mich schon in alles einweihen.«
Ihre Freundin öffnete die Augen wieder. Ein verzweifelter Ausdruck lag darin. »Das will ich. Aber bitte versprich mir, dass du nicht durchdrehst, sondern zumindest bei mir bleibst, bis ich alles erzählt habe. Versprich mir das.«
Verwirrt nickte Carya. »Natürlich. Wir sind doch Freundinnen. Was denkst du von mir?«
»Entschuldige. Es ist nur … « Rajael sammelte sich. »Tobyn … Tobyn ist ein Invitro. Ich bin mit einem Invitro befreundet.«
Im ersten Moment glaubte Carya, sich verhört zu haben. Damit hatte sie nun wirklich nicht gerechnet. Natürlich hätte mir die Sache mit den Schwarzen Templern einen Hinweis geben können, ging es ihr durch den Sinn. Dann kam ihr ein zweiter Gedanke, und sie runzelte die Stirn. »Aber das kann doch gar nicht sein. Er ist viel zu jung. Alle Invitros, die noch leben, stammen aus der Zeit vor dem Sternenfall und sind jetzt mindestens … « Sie stockte und zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung … vierzig oder fünfzig Jahre alt.«
»Das stimmt nicht«, entgegnete Rajael. »Auch wenn wir in den Dunklen Jahren unglaublich viel moderne Technik verloren haben, sind nicht alle Brutlabors zerstört worden. Im Geheimen gibt es immer noch einige. Tobyn wurde beispielsweise im Norden in den Bergen geboren. Natürlich ist es gefährlich für Invitros und Menschen, die ihnen wohlgesonnen sind, die Labore zu betreiben. Du weißt ja, wie der Lux Dei zu Künstlichen steht.«
Carya musste an Signora Bacchettona denken. Sie nickte stumm.
»Darüber hinaus ist es auch schwierig, ein Brutlabor zu betreiben. Man braucht Strom dafür und gewisse andere Dinge, die nicht einfach in der Wildnis draußen herumliegen. Die besten Aussichten auf Erfolg hat man, wenn man es in einer Stadt versteckt – wie
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