Flammen über Arcadion
ihm verabschieden.«
»Aber wie?«, wollte Carya wissen. »Ich möchte gerne alles für dich tun, aber ich habe keine Ahnung, wie ich dir diesen Wunsch erfüllen soll.«
»Geh in den Tribunalpalast. Dein Vater arbeitet doch dort als Gerichtsdiener. Bring für mich in Erfahrung, ob sie Tobyn schon getötet haben oder ob er noch lebt und ihm eine Untersuchung oder ein Prozess wegen Vergehen gegen die göttliche Ordnung bevorsteht. Das würde mich nicht wundern. Inquisitoren lieben das Zeremoniell. Außerdem wollen sie sicher wissen, ob er ihnen noch irgendetwas über andere Invitros sagen kann. Wenn dem so wäre, hätte ich vielleicht noch eine Chance. Ich habe gehört, dass die Inquisitoren ausgewählten Gästen erlauben, an den Prozessen teilzunehmen.«
Carya nickte langsam. Etwas in der Art hatte ihr Vater auch schon mal erzählt. Natürlich musste man entweder direkt zum Lux Dei gehören oder sich sonst irgendwie hervorgetan haben, um einen Prozess im Tribunalpalast mit ansehen zu dürfen. Oder man musste Verbindungen besitzen. »Ich verstehe. Du willst, dass ich meinen Vater bitte, uns zu helfen. Aber, Rajael, das können wir vergessen. Mein Vater wird niemals zulassen, dass ich so einen Prozess besuche. Es heißt, dass die Inquisitoren die Angeklagten dabei gelegentlich foltern.«
Rajael presste die Lippen zusammen. Sie sah sehr elend aus. »Ich weiß. Umso wichtiger ist es, dass ich Tobyn sehe. Ich möchte ihm zeigen, dass ich bis zuletzt an seiner Seite stehe, auch wenn ich ihn nicht retten kann. Gibt es denn keine Möglichkeit?«
Caryas Gedanken rasten. Ihren Vater zu fragen würde nichts bringen. Ganz egal, was sie sich für eine Geschichte einfallen ließ. Davon war sie felsenfest überzeugt. Aber sie kannte noch jemand anderen, der ihr vielleicht helfen konnte. Es gefiel ihr nicht, ihn aufzusuchen, und noch weniger, ihn um einen Gefallen zu bitten, der nicht ganz ohne Risiko war. Sie würde in seiner Schuld stehen – und das nicht zu knapp. Aber was blieb ihr anderes übrig?
Sie hatte ihrer Freundin versprochen, alles zu versuchen, um ihr Leid zu lindern. Und sie wollte Rajael, die ihr von allen Menschen vielleicht die Liebste war, nicht enttäuschen.
Kapitel 9
G ewaltig und ebenso Ehrfurcht gebietend wie Furcht einflößend ragte der Tribunalpalast vor Carya auf, als sie wenig später in die Innenstadt von Arcadion zurückkehrte. Sie hatte Rajael versprochen, so schnell wie möglich mehr über Tobyns Schicksal in Erfahrung zu bringen. Wenn die Inquisitoren sich für ihn interessierten, war in der Tat Eile geboten. Es war ein offenes Geheimnis, dass die Hüter von Glaube und Ordnung nicht zimperlich mit ihren Gefangenen umgingen, wenn sie diesen Geständnisse oder Informationen entlocken wollten.
Wenn mein Vater wüsste, dass ich hier bin, wäre er ziemlich wütend, dachte Carya, während sie die letzten Schritte zum Eingangsportal des riesigen Bauwerks zurücklegte. Nach ihrem Gespräch mit Rajael war sie nicht nach Hause zurückgekehrt, denn dann hätte sie erstens erklären müssen, warum sie das Mittagessen verpasst hatte, und wäre zweitens gezwungen gewesen, Schulaufgaben zu machen, etwas, wofür sie gegenwärtig überhaupt keine Zeit hatte. Sie würde heute Abend eben etwas länger aufbleiben müssen – oder morgen das Donnerwetter ihrer Lehrer über sich ergehen lassen.
Beides bereitete ihr deutlich weniger Sorgen als das, was unmittelbar vor ihr lag.
Die beiden gepanzerten Schwarzen Templer, die den Eingang bewachten, nahmen zu Caryas Erleichterung überhaupt keine Notiz von ihr. Es war nicht die Aufgabe der Soldaten, sich um irgendwelche zivilen Gäste zu kümmern. Sie schritten nur ein, wenn offensichtliche Gefahr drohte.
Genau genommen standen weite Teile des Tribunalpalasts durchaus Besuchern offen. Schließlich kümmerte man sich hier nicht nur um schwere Fälle von Staatsverrat, sondern auch um jede andere Art von Rechtsprechung. Hunderte von zivilen Bediensteten hielten den bürokratischen Apparat am Laufen. Nur der Westflügel, der vollständig von der Inquisition besetzt war, galt als Sperrzone, die offiziell nur mit entsprechender Genehmigung betreten werden durfte.
Allerdings gab es vereinzelt Korridore, die von einem Flügel zum anderen führten und nicht durch Wachposten gesichert waren, sondern nur durch Türen, die für gewöhnlich verschlossen sein sollten. Dass dies in Wirklichkeit nicht immer der Fall war, hatte Carya in jungen Jahren unfreiwillig feststellen
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