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Flammen über Scarborough Street: Ein Inspektor-Pitt-Roman

Flammen über Scarborough Street: Ein Inspektor-Pitt-Roman

Titel: Flammen über Scarborough Street: Ein Inspektor-Pitt-Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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Überzeugungen anhing und sie ein wenig zu weit getrieben hat. Sofern Ihre Frage der rücksichtsvolle Versuch ist, festzustellen, ob mir bekannt war, dass er sich der Vorstellung verschrieben hatte, man müsse diese Ziele mit gewalttätigen Mitteln anstreben, lautet die Antwort Nein. Aber möglicherweise hätte ich damit rechnen müssen. Wenn ich klüger gewesen wäre, hätte ich vielleicht etwas unternehmen können, das zu verhindern – allerdings weiß ich nicht so recht, was.«
    Unsagbares Mitleid überflutete Narraway. Wäre der Mann ausfällig geworden und hätte er seine Wut gegen die Gesellschaft, das Schicksal oder auch gegen den Staatsschutz hinausgeschrien, hätte er es Narraway damit möglicherweise leichter gemacht, denn dann hätte er sich verteidigen können. Er kannte alle Begründungen und Argumente für die Notwendigkeit dessen, was er tat. Er stand größtenteils voll Überzeugung dahinter und hatte nie einen Gedanken an die Überlegung verschwendet, ob andere das auch taten. Das konnte er sich nicht leisten. Aber die Art, wie der Mann, der ihm da gegenübersaß, die Mitteilung stumm und klaglos aufnahm, traf ihn an einer Stelle, an der er selbst verwundbar war.
    »Wir können andere Menschen nicht dazu zwingen, dass sie unsere Überzeugungen teilen«, sagte er ruhig, »und sollten das auch nicht tun. Die Jugend begehrt zu allen Zeiten auf, und ohne sie gäbe es auch nur wenig Veränderung.«
    »Danke«, flüsterte Landsborough. Dann räusperte er sich mehrere Male, bis er sich wieder in der Hand hatte. »Magnus war ein leidenschaftlicher Verfechter der Freiheit des Einzelnen, und er sagte, sie werde stärker bedroht, als mir klar sei«, fuhr er fort. »Aber natürlich habe ich den Strom der Meinungen auch öfter
kommen und gehen sehen als er. Die jungen Leute sind so ungeduldig.« Er erhob sich mühevoll, wobei er sich auf die Armlehnen des Sessels stützte. In den wenigen Minuten, seit er dort Platz genommen hatte, schien er um zehn Jahre gealtert zu sein.
    Narraway, der nicht wusste, was er darauf antworten sollte, folgte ihm wortlos aus dem Raum. Sie ließen sich vom Klubdiener ihre Hüte geben und gingen gemeinsam die Treppe hinab, wo stets eine Droschke zu warten schien. Narraway nannte dem Kutscher die Adresse, und sie fuhren schweigend dem Leichenschauhaus entgegen. Es war nicht so, dass Narraway nicht gewusst hätte, was er sagen sollte; er wollte den anderen nicht in seinem Kummer stören, ihn nicht zu einer höflichen Konversation nötigen.
    Zugleich war ihm klar, dass er ihm später weitere Fragen über seinen Sohn würde stellen müssen: Ob er Geldschwierigkeiten gehabt hatte und mit wem er an welchen Orten zusammengetroffen war. Da solche Angaben unter Umständen dazu geeignet waren, ihn auf die Spur weiterer Anarchisten zu führen, konnte er es sich keinesfalls leisten, sie nicht zu stellen, wie schmerzlich sie für den von Gram gebeugten Vater auch sein mochten.
    Augenscheinlich war das Leichenschauhaus kein Gebäude, das für die Lebenden gedacht war. Nichts vermochte die Atmosphäre des Todes zu verdrängen, die dort in der Luft hing, nicht einmal der strenge Karbolgeruch. Narraway war damit vertraut, aber Landsborough wohl kaum. Schließlich starben die meisten Menschen zu Hause, und woran auch immer sie leiden mochten, in keinem Krankenzimmer herrschte dieser alles durchdringende Geruch.
    Ein Angestellter begrüßte sie mit der berufsmäßigen Maske würdevollen Ernstes. Er wusste, wie er sich in Gegenwart von Menschen zu verhalten hatte, die vom Schmerz überwältigt waren, ohne ihnen zu nahe zu treten. Er führte sie durch einen Gang in einen Raum, wo die Leiche auf einem Tisch lag. Ein Tuch bedeckte sie vollständig, auch den Kopf.
    Narraway fiel ein, wie entstellt das Gesicht war, und so trat er
rasch zwischen Landsborough und den Tisch. Dann zog er das Tuch so weit beiseite, dass die Hand des Toten sichtbar wurde. Man hatte ihm den Siegelring wieder angesteckt. Sicherlich würde das dem Vater genügen, um die Leiche zu identifizieren.
    »Ist er so grässlich zugerichtet?«, fragte Landsborough ein wenig überrascht.
    »Ja.« Narraway bedeutete ihm, er möge sich die Hand ansehen.
    Landsborough betrachtete sie. »Ja, das ist der Ring meines Sohnes, und ich glaube auch, dass es seine Hand ist. Ich würde aber trotzdem gern das Gesicht sehen.«
    »Mylord …«, versuchte Narraway einzuwenden, überlegte es sich dann aber anders. Es war töricht von ihm – ohne einen Blick auf

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