Flammen über Scarborough Street: Ein Inspektor-Pitt-Roman
er rannte.
Pitt wollte ihm entgegeneilen, dann aber fiel ihm ein, dass sie einander im Gedränge verfehlen könnten, und so tat er wieder einen Schritt zurück. Im nächsten Augenblick wären sie fast zusammengestoßen.
»Wetron ist auf dem Weg zu Voiseys Haus«, keuchte Tellman. »Er hat eine Pistole mitgenommen. Ich vermute, dass er die Absicht hat, ihn zu erschießen und hinterher zu sagen, es sei in reiner Notwehr geschehen. Niemand würde etwas dagegen sagen können.«
»Er ist auf dem Weg zu Voisey? Dann schnell hinterher. Er kann uns nicht alle drei und die Dienstboten obendrein erschießen.« Mit großen Schritten eilte Pitt, von Tellman gefolgt, der nächsten größeren Straße entgegen, wo sie die erste freie Droschke anhielten. Pitt nannte Voiseys Adresse und forderte den Kutscher auf, sich zu beeilen. »Es geht um Leben und Tod!«, fügte Tellman mit so scharfer Stimme hinzu, dass andere Kutscher in der Nähe mit ungläubiger Miene herübersahen. Dann sprangen beide in die Droschke.
Die Droschke bahnte sich ihren Weg durch den dichten Verkehr.
Keiner der beiden sprach. Sie bemühten sich, ihre Empfindungen zu beherrschen und ihre Fantasie daran zu hindern, sich auszumalen, was alles fehlschlagen konnte. Es wäre ein Albtraum, wenn Voisey Sieger bliebe und sich ein Racheakt an den anderen reihte, bis nichts und niemand mehr übrig wäre.
Aber auch die Hoffnung mussten sie unterdrücken. Sie würden Wetron wegen Mordversuchs an Voisey festnehmen. Der Beweis für Wetrons Schuld existierte, und Voisey hatte ihn im Besitz. Der Korruption wäre damit das Haupt abgeschlagen, und der Gesetzentwurf würde nicht durchkommen. Aber Voisey würde am Leben bleiben, mit allem, was das bedeutete.
Jetzt raste die Droschke durch eine halb leere Straße und bog so scharf um eine Ecke, dass der eine fast auf dem Schoß des anderen gelandet wäre. Der Kutscher trieb sein Pferd zu noch größerer Eile an.
Als die Droschke hielt, schien die Fahrt trotzdem eine Ewigkeit gedauert zu haben. Pitt gab dem Kutscher eine Hand voll Münzen, wobei er das, was er für den angemessenen Fahrpreis hielt, mit einem großzügigen Trinkgeld aufrundete. Dann stürmten er und Tellman über den Gehweg und die Stufen von Voiseys Haus empor. Pitt hämmerte gegen die Tür.
Der Butler öffnete mit hochnäsiger Miene. »Ja, Sir?« Der Ton, in dem er das sagte, zeigte deutlich, was er von Menschen hielt, die laute und ordinäre Geräusche machten, ganz gleich, aus welchem Grund. »Kann ich etwas für Sie tun?«
»Ich muss sofort mit Sir Charles sprechen!«, stieß Pitt atemlos hervor. »Sein Leben ist in Gefahr.«
»Sir Charles ist im Parlament. Tut mir Leid, Sir.«
»Aber vor vierzig Minuten war er noch hier«, begehrte Tellman auf, als sei das von Bedeutung.
»Nein, Sir«, sagte der Butler fest. »Sir Charles ist vor über einer Stunde gegangen.«
»Hauptkommissar Wetron hat gesagt …«, beharrte Tellman mit erhobener Stimme.
»Ich bedaure, Sir, Sie müssen sich irren«, erklärte der Butler.
Wilde Verschwörungstheorien jagten sich in Pitts Kopf, bis ihm die nahe liegende Lösung einfiel. »Er war gar nicht zu Hause«, sagte er. »Wetron hat uns in die Irre geführt. Wir müssen zum Unterhaus.«
»Dort kann er seinen Plan unmöglich ausführen!«, gab Tellman zu bedenken.
»Doch, ohne weiteres, in einem der Abgeordnetenbüros.« Pitt eilte wieder die Stufen hinab, gerade noch rechtzeitig, um dem Droschkenkutscher zuzurufen, dass er warten solle. Er hatte dem Pferd eine kleine Verschnaufpause gegönnt und dabei das Schauspiel am Eingang des vornehmen Hauses genossen. Gerade, als er abfahren wollte, rief Pitt ihn an, und so wartete er.
»Zum Unterhaus«, gebot Pitt.
»Wohl wieder so schnell, wie’s geht?«, fragte der Kutscher belustigt. »Fahr’n Se eig’ntlich nie mit normaler Geschwindigkeit wie and’re Leute? ’s geht wohl wieder um Leb’n un Tod, was?«
»Ja. Los! Falls Ihr Pferd aber erschöpft ist, halten Sie bei der nächsten Droschke an, und wir steigen um«, sagte Pitt.
Der Fahrer warf ihm einen herablassenden Blick zu und ließ sein Pferd antraben.
»Wir kommen bestimmt zu spät«, knurrte Tellman mit zusammengebissenen Zähnen. »Bis dahin hat ihn der Mistkerl erschossen.«
Pitt sagte nichts. Er fürchtete, dass Tellman Recht hatte.
Weil die Straßen verstopft waren, schien sich die Fahrt endlos lange hinzuziehen. Weder die Ungeduld noch das Bewusstsein eines bevorstehenden Fehlschlags konnte sie verkürzen
Weitere Kostenlose Bücher