Flammen über Scarborough Street: Ein Inspektor-Pitt-Roman
›Herein‹.
Er trat ein. »Guten Morgen, Sir«, sagte er ohne zu zögern und
schloss die Tür hinter sich. Seine Stimme war angespannt und eine Spur höher als sonst.
Wetron stand am Fenster. Er wandte sich um und sah Tellman verärgert an. Auf seinem Gesicht mischte sich Besorgnis mit einer Art Siegesgewissheit. »Guten Morgen. Tut mir Leid, was ich über Pitt gehört habe. Konnte den Mann nie ausstehen, aber ich weiß, dass Sie ihm verbunden waren.«
Tellmans Gedanken jagten sich. Offenbar hatte jemand Wetron mitgeteilt, dass Pitt nicht mehr lebte – jetzt schon! Er hatte drei Möglichkeiten: das zu bestreiten, so zu tun, als wisse er selbst schon davon, oder vollständige Unwissenheit zu heucheln. Ihm blieben nur wenige Sekunden, um zu entscheiden, welche davon die für ihn günstigste war. »Sir?« Er versuchte, Zeit zu gewinnen, denn er konnte sich nicht den geringsten Fehler leisten.
»Heute Morgen hat man ihn aus der Themse gezogen«, sagte Wetron und sah ihn mit boshafter Freude an. »Sieht ganz so aus, als ob ihn die Anarchisten erledigt hätten.«
»Ach, das meinen Sie.« Mit einem Mal sah Tellman eine Lösung vor sich. Er hatte die Möglichkeit, das als Waffe zu benutzen. »Sieht mir ganz so aus, als ob sich Mr Simbister wehren wollte. Finden Sie nicht auch? Sozusagen sein letztes Aufbäumen.«
Röte stieg Wetron ins Gesicht. Einen Augenblick lang schien er unsicher. Am liebsten hätte er Tellman angebrüllt, ihn in seinem Schmerz verhöhnt. Dann gewann sein Kalkül die Oberhand; er überlegte, was seinen Zwecken am ehesten dienlich war, und sagte gelassen: »Wollen Sie damit sagen, dass Ihnen Simbisters Korruption bekannt war?«
»Ich weiß, was heute Morgen in den Zeitungen stand, Sir«, gab er zurück. »Über Sir Charles Voisey kann ich mehr sagen.«
»Ach ja?« Wetron hob die Brauen. »Wie kommt das? Mir ist nicht bekannt, dass es zu Ihren Ermittlungsaufträgen gehört hätte, Erkundigungen über Unterhausabgeordnete einzuziehen.«
Ein Schauder überlief Tellman. Wie leicht konnte er jetzt zu viel oder das Falsche sagen, sich zu sicher fühlen. Das war der Augenblick der Wahrheit. »Nein, Sir«, sagte er mit gespielter Schüchternheit.
»Ich mache dem Hausmädchen der Pitts den Hof, Sir, und war zufällig heute Morgen da.«
»Dann muss ich annehmen, dass Pitts Tod Sie ziemlich kalt lässt«, sagte Wetron verblüfft. »Sollten Sie Charakterzüge besitzen, die mir unbekannt sind?«
»Ich glaube nicht, Sir. Mr Pitt geht es gut. Ich weiß nicht, wen man aus dem Fluss gezogen hat. Vielleicht einen armen Kerl, der ihm ähnlich sieht. Wenn ich offen sprechen darf, habe ich den Eindruck, dass Sir Charles Ihnen ganz bewusst eine Lüge aufgetischt hat, Sir.« Er entspannte sich ein wenig. »Soweit ich von Mr Pitt und meinen eigenen Beobachtungen weiß, Sir, scheint er Sie nicht besonders gut leiden zu können. Er steckt auch sozusagen hinter der Sache mit Mr Simbister.«
Wetron regte sich nicht. »Wie kommen Sie darauf?«
Jetzt war der richtige Zeitpunkt gekommen, ihm zu sagen, was nötig war, damit Narraways Plan aufging. »Er hat dem Staatsschutz den Hinweis zugespielt, dass Mr Simbister mithilfe von Kriminellen Geld bei den Gastwirten eintreibt, und auch festgestellt, dass das von den Anarchisten verwendete Dynamit auf einem Boot in der Nähe von Shadwell gelagert wurde.«
In Wetrons Augen glitzerte Kälte. Sein Gesicht schien vollständig blutleer zu sein. »Und woher wissen Sie das, Tellman? Das klingt ganz so, als hätten Sie länger für den Staatsschutz gearbeitet als für die Polizei, die Sie bezahlt. Auf welcher Seite stehen Sie eigentlich? Ich hätte es mir doch denken können!«
»Wie ich schon gesagt habe, Sir, ich mache Mr Pitts Hausmädchen den Hof und war zufällig heute Morgen da. Da habe ich es von Mr Pitt selbst gehört. Sir Charles wollte ihn gestern Abend umbringen, hat es aber nicht geschafft.«
»Waren Sie dabei?«, wollte Wetron wissen. Tellman machte ein bekümmertes Gesicht. »Nein, Sir! Ich war hier, ich hatte Dienst!«
»Warum sind Sie zu mir gekommen?«, fragte Wetron. Seine Lippen waren so fest zusammengepresst, dass der Mund aussah wie mit einem Messer ins Gesicht geschnitten.
»Ich möchte, dass die Polizei im richtigen Licht erscheint und
die Leute uns nicht für Verbrecher halten, Sir.« Das war glaubwürdig. Er hatte sein ganzes Arbeitsleben bei der Polizei verbracht, und das wusste Wetron. »Ich halte es für richtig, dass Mr Simbister aus dem Dienst
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