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Flammen über Scarborough Street: Ein Inspektor-Pitt-Roman

Flammen über Scarborough Street: Ein Inspektor-Pitt-Roman

Titel: Flammen über Scarborough Street: Ein Inspektor-Pitt-Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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Feder der Leitartikel stammte, bei dessen Lektüre ihr Unbehagen immer mehr zunahm.

    Während sich gestern am frühen Morgen die Bewohner der Myrdle Street auf einen weiteren arbeitsreichen Tag vorbereiteten, unterbrach sie die Polizei bei ihrem armseligen Frühstück, um ihnen mitzuteilen, dass Anarchisten im Begriff standen, in ihren Häusern Sprengsätze zu zünden. Alte Männer schlurften auf die Straße hinaus, Frauen, denen verängstigte Kinder am Schürzenzipfel hingen, rafften an Habseligkeiten zusammen, was ihnen angesichts der Eile in die Hände fiel, und flohen ins Freie.
    Wenige Minuten später schlugen Flammen aus den heruntergekommenen Häusern. Wie Geschosse flogen Steine und Dachziegel durch die Luft und zerstörten in den umliegenden Straßen Fenster und Dächer. Schwarzer Rauch quoll zum Morgenhimmel, und Entsetzen erfasste Dutzende einfacher Menschen, die mit ansehen mussten, wie ihr Heim und ihr Leben vernichtet wurden, weil Anarchisten nicht bereit waren, sie in dem Frieden leben zu lassen, auf den jeder Bürger Englands ein Anrecht hat.
    Die Polizei hat die Täter verfolgt und in einer Wohnung in der Long Spoon Lane gestellt. Als man das Gebäude nach kurzer Belagerung stürmte, wurde bei einem Feuergefecht der zweiundzwanzigjährige Beamte Field aus Mile End getroffen, aber dank dem mutigen Eingreifen seiner Kollegen vor dem Tode bewahrt.
    Weniger Glück hatte Lord Sheridan Landsboroughs einziger Sohn Magnus, den man in einem der oberen Räume tot auffand. Noch ist nicht geklärt, ob er eine Geisel der Anarchisten war oder sich aus eigenem Entschluss bei ihnen aufhielt.
    Wir müssen uns die Frage stellen, was für Menschen solch ungeheuerliche Taten begehen. Wer sind diese Barbaren, und welchen Zielen glauben sie damit zu dienen? Gewiss kann hinter diesem Terror nur die Absicht stehen, uns im Dienste finsterer Mächte, denen wir uns freiwillig nicht beugen würden, in die Knie zu zwingen. Manch einer fragt sich: Geht diese Art von Gewalttat vom Ausland aus, ist es die erste Welle eines Eroberungsfeldzugs fremder Mächte?
    Die Redaktion dieser Zeitung vertritt eine andere Ansicht. Wir leben in Frieden mit allen näheren und ferneren Nachbarländern. Es gibt nicht den geringsten Hinweis darauf, dass eine fremde Nation in diese Machenschaften verwickelt sein könnte. Eher ist zu fürchten, dass dahinter verworrene politische Vorstellungen stehen, Ideale, deren Verfechter bereit sind, alles zu zerstören, was wir in Jahrhunderten mithilfe von Kunst, Wissenschaft, Zivilisation und Erfindungen aufgebaut haben, um das Wohlergehen der Menschen zu fördern. Auf den Resten unserer Gesellschaft wollen sie entsprechend den Vorstellungen, die sie
vertreten, ihre eigene errichten. Ob sie sich nun Sozialisten, Anarchisten oder was auch immer nennen – auf jeden Fall handelt es sich um Wilde, um Verbrecher, die man zur Strecke bringen, festnehmen, vor Gericht stellen und hängen muss. So verlangt es das Gesetz, das dazu da ist, uns alle zu schützen, Starke wie Schwache, Reiche wie Arme.
    Da diese Wirrköpfe, die es darauf angelegt haben, unser aller Leben zu zerstören, mächtig und ganz offensichtlich bestens bewaffnet sind, müssen wir unsere Polizei, die Soldaten des zivilen Heeres, das zu unserer Verteidigung bereitsteht, ebenfalls gut bewaffnen. Ihre Angehörigen setzen ihr Leben aufs Spiel – manche von ihnen verlieren es dabei –, wenn sie sich zwischen uns und das Chaos aus Gewalttat und Anarchie stellen. Wir können es uns nicht leisten, sie unbewaffnet in diesen Kampf zu schicken, und jeder Versuch, es dennoch zu tun, wäre verwerflich und moralisch durch nichts zu rechtfertigen.
    Doch nicht nur angemessene Waffen müssen wir ihnen in die Hand geben, es müssen auch Gesetze erlassen werden, mit deren Hilfe sie Kriminelle aufspüren können, die unseren Untergang betreiben. Das Gesetz verlangt, dass eine Straftat bewiesen wird, und das ist auch richtig so, denn es dient dem Schutz des Schuldlosen. Aber ein Polizeibeamter, den man daran hindert, jemanden festzunehmen, den er verbrecherischer Absichten verdächtigt, oder dessen Wohnung zu durchsuchen, kann nur hilflos warten, bis die Tat geschehen ist, und dann das Opfer rächen. Das aber genügt nicht. Wir haben einen Anspruch darauf, dass Rechtsbrüche verhindert werden, bevor sie solche Folgen zeitigen – es muss unbedingt etwas geschehen.

    Charlotte legte die Zeitung aus der Hand und sah unbehaglich vor sich hin. Der Tee in ihrer Tasse war

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