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Flammen über Scarborough Street: Ein Inspektor-Pitt-Roman

Flammen über Scarborough Street: Ein Inspektor-Pitt-Roman

Titel: Flammen über Scarborough Street: Ein Inspektor-Pitt-Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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und
Vespasias Ansicht nach kälter als eine Winternacht. Sie hatten einander von Anfang an mit gutem Grund nicht ausstehen können und verbargen diese gegenseitige Abneigung hinter der kühlen Fassade gemessener Höflichkeit. Keine von beiden ließ sich in der Gesellschaft je im geringsten gehen, beide waren stets tadelfrei gekleidet, mit blitzenden Juwelen geschmückt, und bei ihrer Frisur befand sich jedes Haar an seinem Platz. So hinreißend Cordelia sein mochte, nach Vespasia hatten sich an allen Höfen Europas die Köpfe umgedreht und die Herzen gesehnt. Sie war nicht nur klug, sondern auch voll Leidenschaft, und sie besaß den Mut, jedes Wagnis einzugehen.
    Sie hatte sich in ihrer Ehe keineswegs unwohl gefühlt, doch war nicht ihr Mann ihre große Liebe gewesen, sondern Mario Corena, ein italienischer Patriot und Held der 1848er Revolution in Rom. Zwar war ihnen aus für beide unüberwindlichen Gründen kein gemeinsames Glück beschieden, doch die Erinnerung an seinen Idealismus und seine mutige Opferbereitschaft sowie eine wunderbare Zeit hoffnungsvoller Liebe war nie verblasst.
    Im Vorjahr waren sie einander noch einmal kurz begegnet, als Mario aus freien Stücken sein Leben gegeben hatte, um Charles Voisey in den Arm zu fallen, als dieser den englischen Thron stürzen wollte. Dies Opfer war schrecklich und zugleich herrlich gewesen. Es war Vespasia gelungen, sich an Voisey zu rächen, doch um einen Preis, den sie nie vergessen würde.
    Als sie jetzt allein im morgendlichen Sonnenschein ihres Frühstückszimmers las, dass Sheridan Landsborough seinen einzigen Sohn verloren hatte, empfand sie seinetwegen tiefe Trauer. Die Jahre, die seit ihrer letzten Begegnung vergangen waren, schwanden dahin, und selbst Cordelias Abneigung schien nicht mehr wichtig zu sein. Sie musste unbedingt schreiben und ihr Beileid ausdrücken. Da es ihr unpassend erschien, den Brief mit der Post zu schicken, beschloss sie, ihn persönlich zu überbringen.
    Sie erhob sich und trat an den Klingelzug neben dem Kamin, um das Mädchen zu rufen. Sie blieb wartend daneben stehen, bis sie hereinkam.
    »Legen Sie bitte Trauerkleidung für mich heraus, Gwyneth«, sagte sie, überlegte es sich dann aber anders. »Nein, das ist zu streng: dunkelgrau. Und sagen Sie Charles, dass ich meine Kutsche um zehn Uhr wünsche. Ich möchte Lord und Lady Landsborough mein Beileid übermitteln.«
    »Wie betrüblich, Mylady«, antwortete das Mädchen, obwohl sie nicht wusste, worum es ging. »Ist das dunkelgraue Seidenkleid recht? Und der Hut mit der schwarzen Straußenfeder?«
    »Ausgezeichnet. Ich werde ein Billett schreiben und komme dann nach oben.«
    »Sehr wohl, Mylady.«
    Das Mädchen zog sich zurück, und Vespasia ging durch das Vestibül ins Damenzimmer, wo Papier und Schreibgerät auf ihrem Sekretär bereitlagen.
    In einer solchen Situation die richtigen Worte zu finden war nie einfach. Für Cordelia wären die förmlichsten Ausdrücke gerade richtig gewesen, aber Sheridan, den sie einst so gut gekannt hatte, würde das als gestelzt und abstoßend empfinden; es wäre schlimmer, als wenn sie nichts geschrieben hätte.
    Sie setzte sich in der Kühle des Zimmers an den Sekretär. Grünliches Licht fiel durch die Fenster herein, da das Laub davor das Sonnenlicht dämpfte. Die Zeit der Krokusse und Osterglocken war vorüber, und für die leuchtenden Farben des Sommers war es noch zu früh.
    Lieber Sheridan, liebe Cordelia,
gerade habe ich von Eurem herben Verlust erfahren und stelle mir bestürzt vor, wie groß Euer Schmerz sein muss. Wie gern würde ich Euch Beistand und Hilfe anbieten, Euch Worte des Trostes sagen, doch ist mir klar, dass es keine andere Möglichkeit gibt, als den Kummer zu ertragen. Sofern Euch meine treue Freundschaft jetzt oder künftig etwas zu geben vermag, meldet Euch bitte. Ich werde stets zu Eurer Verfügung sein.

In aufrichtiger Trauer
    Vespasia Cumming-Gould
    Sie faltete den Briefbogen, steckte ihn in einen Umschlag und versiegelte ihn. Weder las sie das Geschriebene noch einmal durch, noch fragte sie sich, ob es elegant oder angemessen formuliert war. Sie hatte geschrieben, was sie empfand, mehr vermochte sie nicht zu tun. Wenn sie erst lange überlegte, was Cordelia in ihre Worte hineinlesen konnte, käme sie nie dazu, den Brief zu übergeben.
    Sie ging nach oben, zog das dunkelgraue Seidenkleid an und begutachtete das Ergebnis im Spiegel.
    »Sie sehen wunderschön aus, Mylady«, sagte Gwyneth hinter ihr.
    Damit hatte sie

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