Flammen über Scarborough Street: Ein Inspektor-Pitt-Roman
schlafen gehen.« Sie warf einen sehnsüchtigen Blick auf den Apfelkuchen mit der knusprigen Kruste.
Es kostete Charlotte Mühe, nicht zu lächeln. Pitt erkannte das an ihren Augen und sah beiseite. Die Wärme der Küche löste seine Anspannung; die Gewalttätigkeit zog sich aus seinen Gedanken an irgendeinen finsteren Ort außerhalb der Wände des Hauses zurück. Der Kuchen war noch ein wenig warm, die dickflüssige Sahne war angenehm weich im Mund.
»Unbedingt«, gab Charlotte ihrer Tochter Recht. »Aber wenn du davon überzeugt wärest, dass etwas ungerecht ist, würdest du schrecklich wütend und vielleicht nicht den Mund halten oder tun, was man dir sagt.«
Jemima sah Pitt zweifelnd an. »Haben die deshalb Sachen kaputt gemacht, Papa? Gibt es etwas, was ungerecht ist?«
»Ich weiß nicht«, sagte Pitt. »Aber auf keinen Fall löst man Probleme damit, dass man die Häuser von Leuten in die Luft sprengt.«
»’türlich nich!«, stieß Gracie heftig hervor und reckte sich auf die Zehenspitzen, um die Teedose von ihrem Brett herunterzunehmen. »Dafür ham wir de Polizei, dass se für Ordnung sorgt – un normalerweise tut se das auch. Unrecht geg’n Unrecht nützt
nix un gehört sich nich.« Man sah nur ihren schmalen Rücken, während sie den Deckel der Teekanne abnahm. Sie war in den Gassen eines Elendsviertels aufgewachsen und hatte als Kind gestohlen und gebettelt, um zu überleben. Jetzt, da sie zu den achtbaren Menschen gehörte, war niemand gesetzestreuer als sie.
Charlotte, die aus einer vornehmen Familie stammte, sich aber trotz ihrer Erziehung als höhere Tochter in einen einfachen Polizeibeamten verliebt hatte, konnte sich eine etwas liberalere Haltung leisten.
»Gracie hat ganz Recht«, sagte sie freundlich zu Jemima. »Man darf nicht unschuldige Menschen leiden lassen, um auf ein Unrecht hinzuweisen. Das ist auf jeden Fall falsch, ganz gleich, wie wichtig einem die Sache ist. Jetzt geh nach oben und lass deinen Vater in Ruhe essen.«
»Aber Mama …«, setzte sie an.
»In unserem Hause dulde ich keine Anarchie«, teilte ihr Charlotte mit. »Rauf!«
Das Mädchen zog eine Schnute, umschlang den Vater erneut und gab ihm einen Kuss. Dann verließ sie mit flinken Schritten die Küche.
Gracie wärmte die Kanne an und machte den Tee.
Pitt aß den letzten Bissen seines Apfelkuchens und lehnte sich behaglich zurück, ganz der Helligkeit und Wärme um ihn herum hingegeben.
Am nächsten Morgen verließ er das Haus so früh, dass Charlotte allein frühstücken musste. Während sie am Tisch saß, ging sie die Zeitungen durch. Sie alle berichteten über den Sprengstoffanschlag in der Myrdle Street, wobei der einzige Unterschied im Grad der Empörung bestand. Manche quollen über vor Mitleid mit den Familien, die ihr Heim verloren hatten, und zeigten Bilder von Menschen, die sich verwirrt und ängstlich aneinander drängten. Das Entsetzen auf ihren Gesichtern war unübersehbar.
Andere forderten aufgebracht eine harte Bestrafung der Verbrecher, die solche Untaten begingen. Man übte Kritik an der
Polizei und noch mehr am Staatsschutz. Selbstverständlich gab es Spekulationen über die Frage, wer hinter den Anschlägen stecken mochte, welche Ziele die Täter verfolgt haben könnten, und ob man künftig mit ähnlichen Gräueltaten rechnen musste.
Die Belagerung des Hauses in der Long Spoon Lane wurde ebenso geschildert wie die Festnahme zweier Anarchisten. Auch wurde in äußerst kritischem Ton gefragt, wieso die anderen noch frei herumliefen.
Der Tod Magnus Landsboroughs wurde auf unterschiedliche Weise kommentiert. Die Times drückte ihr Mitgefühl für die Familie aus, die mit ihm den einzigen Sohn verloren hatte, verbreitete sich aber im Übrigen in erster Linie über die Verdienste, die sich Lord Landsborough als Vertreter des liberalen Flügels im Oberhaus erworben hatte. Der Frage, was sein Sohn in der Long Spoon Lane gewollt hatte, ging man nicht weiter nach, schloss aber die Möglichkeit nicht aus, dass man ihn dort als Geisel festgehalten hatte.
Andere Blätter waren weniger zurückhaltend. Sie neigten der Ansicht zu, er habe zu den Anarchisten gehört und einfach das Pech gehabt, beim Feuergefecht mit der Polizei als Einziger ums Leben zu kommen. Der verwundete Beamte wurde ebenfalls erwähnt und wegen seines Mutes gelobt.
Sorge bereitete Charlotte, was sie in der letzten Zeitung las, die sie zur Hand nahm. Ihr Herausgeber war der hoch geachtete und einflussreiche Edward Denoon, aus dessen
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