Flammen über Scarborough Street: Ein Inspektor-Pitt-Roman
kalt geworden.
Gracie kam vom Lieferanteneingang in die Küche und fragte besorgt: »Was is passiert? Stimmt was nich?« Seit sie vor Jahren ins Haus gekommen war, hatte sie, die weder lesen noch schreiben konnte, mit Charlottes Hilfe auf beiden Gebieten große
Fortschritte gemacht und sich angewöhnt, jeden Tag mindestens zwei Zeitungsartikel zu lesen. Jetzt fragte sie mit einem skeptischen Blick auf Denoons Zeitung und Charlottes Tasse: »Is etwa schon wieder ’ne Bombe hochgegang’n?«
»Nein«, gab Charlotte rasch zur Antwort. »Mich beschäftigt, was der Herausgeber dieser Zeitung schreibt: Er verlangt für die Polizei mehr Schusswaffen und die Möglichkeit, ohne große Umstände Haussuchungen durchzuführen.«
Gracie stellte das Gemüse auf das Abtropfbrett neben dem Waschbecken. »Geg’n Leute, die Bomb’n un Pistol’n ham, kann de Polizei nich mit ’nem Knüppel kämpf’n«, sagte sie nüchtern. Dann verzog sie angestrengt das Gesicht. »Mir wär aber nich wohl, wenn Mr Pitt ’ne Pistole hätt’ – un dann noch hier im Haus! So was is gefährlich!«, fuhr sie mit gesenkter Stimme fort. Offenbar war ihr die Vorstellung in tiefster Seele zuwider. »Warum müss’n manche Leute bloß immer Schwierigkeit’n mach’n?«
»Gewöhnlich bringen uns erst Schwierigkeiten dazu, etwas zu ändern«, gab Charlotte zur Antwort. Das stimmte zwar, war aber keine Antwort auf Gracies Frage. »Wenn jemand dort, wo du wohnst, im Schutz der Dunkelheit seinen Unrat ablädt«, fuhr sie fort, »oder spät in der Nacht lärmt, wird sich nur dann etwas ändern, wenn du dich darüber beschwerst.« Sie lächelte, als sie in Gracies Augen Zorn aufflammen sah. Sie hatte das Beispiel ›Unrat‹ mit Bedacht gewählt.
Gracie begriff das und warf ihr ein spitzbübisches Lächeln zu, das aber bald wieder verschwand. Mit ernstem Gesicht sagte sie: »Wenn ich aber hergeh und das dumme Stück erschieß, das das Zeug da draußen rumlieg’n lässt, müsst’ ich ins Gefängnis, un das mit Recht. Ich hab ihr ord’ntlich die Meinung gesagt, se aber nich angefasst.« Ein triumphierendes Lächeln trat auf ihre Züge. »Die macht das bestimmt nich noch mal.«
»Das glaube ich gern«, bestätigte Charlotte. »Zwar ist Anarchie der falsche Weg und obendrein lächerlich, ich bin aber nicht sicher, dass die Lösung darin besteht, der Polizei Schusswaffen in die Hand zu geben. Ganz bestimmt jedoch würde man damit,
dass man ihr die Vollmacht einräumt, Häuser nicht nur dann zu durchsuchen, wenn ein begründeter Verdacht besteht, eine allgemeine Verärgerung hervorrufen, und die wäre der Sache auf keinen Fall förderlich.«
»Sagt Mr Pitt das?«, fragte Gracie. In ihren Augen lag Zweifel.
»Er war viel zu müde, um etwas zu sagen«, räumte Charlotte ein. »Außerdem hat er diesen Artikel noch gar nicht gelesen. Aber ich bin überzeugt, dass er das sagen wird.«
Lady Vespasia Cumming-Gould saß am Frühstückstisch und las die gleiche Zeitung, ebenfalls von tiefem Kummer erfüllt, der bei ihr allerdings einen gänzlich anderen Grund hatte. Der Name Landsborough war ihr sofort ins Auge gefallen, und süße Erinnerungen aus früherer Zeit drängten sich in den Vordergrund. Sheridan und sie waren einander vor über vierzig Jahren zum ersten Mal begegnet, bei einem Empfang im Buckingham-Palast. Beide waren sie seit zehn oder zwölf Jahren verheiratet, und die immer gleichen gesellschaftlichen Kontakte, der immer gleiche Klatsch und die immer gleichen Ansichten hatten angefangen, sie zu langweilen.
Sein feinsinniger Humor, sein bisweilen rücksichtslos wirkender typisch englischer Sarkasmus hatten ihr zugesagt. Nicht nur war er ausgeglichen, tolerant und von einem beinahe kindlichen Vertrauen in den Anstand der Menschen, er hatte auch selbst früher Idealen angehangen, darunter der Überzeugung, dass der Mensch von Natur aus gut ist. Stets hatte er die feste Zuversicht ausgedrückt, viel Gutes ließe sich bewirken, wenn man dem »Mann auf der Straße« einen größeren Anteil an der Regierung zubilligte und ihm Gelegenheit gebe, mehr über sein eigenes Schicksal zu bestimmen. Hinter seiner stets gut gekleideten, eleganten und bezaubernden Erscheinung verbargen sich mehr Einfühlungsvermögen und Zartgefühl, als den meisten Menschen seiner Umgebung bewusst war. Vespasias Witz, ihr königliches Auftreten und ihre Schönheit hatten in ihm eine Saite zum Klingen gebracht.
Seine Frau Cordelia war eine dunkle Schönheit, ehrgeizig
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