Flammen über Scarborough Street: Ein Inspektor-Pitt-Roman
Selbstverständlich trug sie Volltrauer.
»Es ist sehr freundlich von Ihnen, selbst zu kommen, Vespasia«, sagte sie und stellte damit eine Vertrautheit her, die zwischen ihnen eigentlich nie bestanden hatte. »Zu einer Zeit wie dieser braucht man Freunde.« Sie sah sich um. »Hier ist es kalt. Möchten Sie nicht lieber in den Salon kommen? Er geht auf den Garten, und dort ist es weit angenehmer.« Damit bot sie Vespasia zwar eine Gelegenheit, sich zu verabschieden, doch wäre das nach einer solchen Freundschaftsbekundung einer kalten Zurückweisung gleichgekommen.
»Danke«, nahm Vespasia an.
Die Hausherrin ging ihr durch das Vestibül in einen wärmeren und weit wohnlicheren Raum voraus. Auch dort sah man überall Hinweise auf die im Hause herrschende Trauer, doch war es darin wärmer, und das Sonnenlicht, das durch die halb zugezogenen Vorhänge fiel, malte bunte Muster auf den in Burgunder-und Blautönen gehaltenen Teppich.
Vespasia überlegte, welchen Grund Cordelia haben mochte,
sie zum Bleiben aufzufordern. Weder hatten sie einander je besonders nahe gestanden, noch gehörte Cordelia zu den Frauen, die anderen ihre Freuden oder Sorgen mitteilen.
Sie nahmen auf zwei großen weich gepolsterten Sofas Platz, die einander gegenüberstanden. Cordelia brach das Schweigen.
»Manchmal ist eine Tragödie dieses Ausmaßes nötig, damit man merkt, was mit einem geschieht«, sagte sie gewichtig. »Man sieht mit an, wie allmählich alles dahinschwindet, ohne dass es einem auffällt, weil jeder einzelne Schritt so klein ist.«
Vespasia hatte keine Vorstellung, wovon sie sprach, und so wartete sie geduldig mit dem Ausdruck höflichen Interesses.
»Jeden, der mir vor zehn Jahren gesagt hätte, dass auf Londons Straßen Polizeibeamte und Anarchisten aufeinander schießen würden«, fuhr Cordelia fort, »hätte ich für verrückt erklärt. Ich hätte gesagt, er male die Dinge Schwarz in Schwarz und versetze andere nur deshalb in Angst und Schrecken, weil er undurchsichtige Ziele damit verfolgte.« Sie holte tief Luft. »Jetzt können wir die Augen nicht mehr vor den Tatsachen verschließen. Es gibt in unserer Gesellschaft Geisteskranke, die darauf aus sind, sie zugrunde zu richten, und daher braucht die Polizei unsere rückhaltlose moralische und materielle Unterstützung.«
»In der Tat ist die Arbeit der Polizei schwierig und häufig undankbar«, sagte Vespasia, wobei sie an Pitt dachte, den sie kannte, seit ihr Großneffe George Charlottes Schwester Emily geheiratet hatte. Nachdem George einem Mord zum Opfer gefallen war, hatte Emily erneut geheiratet, was aber der Freundschaft zu Pitt und seiner Frau nicht nur keinen Abbruch getan hatte, sie war im Gegenteil noch enger geworden, und so war sie für Pitt wie Charlotte ›Tante Vespasia‹.
»Und gefährlich ist sie obendrein«, fügte Cordelia hinzu. »Ein junger Beamter ist bei dem Feuergefecht angeschossen worden. Ohne das mutige und entschlossene Handeln seiner Kollegen wäre er auf offener Straße verblutet.«
»Ja.« Auch Vespasia hatte den Bericht gelesen. »Es sieht aber ganz so aus, als ob er durchkäme.«
»Diesmal«, sagte Cordelia. »Aber wie wird das in Zukunft aussehen?« Sie saß hoch aufgerichtet da und machte ein bedenkliches Gesicht. »Wir brauchen mehr Polizeibeamte, und sie müssen besser bewaffnet werden. Wir dürfen die Bewegungsfreiheit der Polizei nicht durch veraltete Gesetze einschränken, die aus friedlicheren Zeiten stammen. Hier in London wimmelt es inzwischen von Ausländern aller Art, Männern mit wirren Vorstellungen von Revolution, Anarchie und sogar Sozialismus. Sie wollen uns ihre verquere Weltanschauung aufzwingen und haben unmissverständlich klar gemacht, dass sie alles, was wir besitzen, zu zerstören gedenken. Sie werden uns so lange in Angst und Schrecken versetzen, bis wir uns ihrem Willen beugen.« In ihren Augen mischten sich Kummer und Wut. »Das aber werde ich nicht zulassen, solange ich atme! Ich werde allen Einfluss, den ich habe, geltend machen, um dafür zu sorgen, dass die Polizei unterstützt wird, damit sie uns und alles, woran wir glauben, beschützen kann.« Sie sah Vespasia aufmerksam an.
Diese empfand ein leichtes Unbehagen. Sie wusste nicht recht, ob es auf etwas zurückging, was Cordelia gesagt hatte, oder mit der peinlichen Situation zusammenhing, die darin bestand, dass es ihr nicht möglich war, die eigentliche Ursache von Cordelias Kummer anzusprechen. Der am Vortag ermordete Magnus war ihr einziges
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