Flammen über Scarborough Street: Ein Inspektor-Pitt-Roman
Kind gewesen. Vespasia hatte mehrere Kinder, und sie alle lebten und waren wohlauf. Auch wenn sie sie nur selten sah, da sie verheiratet waren und ihr eigenes Leben führten, stand sie doch in ständiger brieflicher Verbindung mit allen. Es war widersinnig, sich schuldbewusst zu fühlen, weil sie selbst so viel mehr besaß als die aufgebrachte Frau ihr gegenüber. Offenbar versuchte Cordelia mit ihrem Schmerz dadurch fertig zu werden, dass sie ihn in Wut verwandelte und einen Kreuzzug führte, der ihre Energien band und ihrem Kummer möglicherweise die unmittelbare Schärfe nahm. Wenn Vespasia sich selbst gegenüber ehrlich war, hing ihr Schuldbewusstsein eher mit der tiefen Freundschaft zusammen, die sie vor so langer Zeit mit Sheridan Landsborough verbunden hatte.
Cordelia wartete nach wie vor auf eine Reaktion. Zwar war Vespasia alles andere als sicher, dass auch sie den Wunsch hatte, man möge der Polizei mehr Schusswaffen in die Hand geben, doch war das nicht der rechte Augenblick, das zu sagen.
»Sicher werden nach dieser Tragödie viele Menschen entschlossen darauf drängen, die Polizei mit allem zu unterstützen, was uns zur Verfügung steht«, stimmte sie zu.
Cordelia zwang sich zu einem Lächeln. »Dafür müssen wir sorgen«, bekräftigte sie. »Veränderungen sind dringend nötig. Ich hatte bisher kaum Zeit, über Einzelheiten nachzudenken, werde aber mit aller Kraft auf dies Ziel hinarbeiten. Sicher darf ich Sie bitten, auch Ihrerseits allen Einfluss in dieser Richtung geltend zu machen.« Obwohl sie mit diesen Worten voraussetzte, dass ihr Vespasia zustimmen würde, suchte sie in ihren Augen nach einer Antwort.
Vespasia holte tief Luft, nicht ganz sicher, warum sie so zögerte. Gab es wirkliche Gründe dafür, oder hing es mit ihren alten Vorbehalten gegenüber Cordelia zusammen? Falls es sich so verhielt, wäre das beschämend, und sie spürte, wie ihr das Blut heiß in die Wangen stieg. »Gewiss«, sagte sie ein wenig zu rasch. »Ich muss zugeben, dass auch ich noch keine Zeit hatte, über diese Sache nachzudenken, doch ich werde es tun. Sie geht uns alle an.«
Cordelia lehnte sich ein wenig zurück und wollte gerade dem Gespräch eine neue Wendung geben, als der Butler hereinkam und diskret an der Tür stehen blieb.
»Ja, Porteous?«, fragte Cordelia.
»Mr und Mrs Denoon sind gekommen, Mylady. Ich habe ihnen mitgeteilt, dass seine Lordschaft ausgegangen ist, und sie wollten wissen, ob Sie sie empfangen oder das lieber auf einen anderen Zeitpunkt verschieben wollen.«
»Bitten Sie sie herein«, sagte Cordelia. Sie wandte sich Vespasia zu. »Ich glaube, Sie kennen Enid Denoon nicht besonders gut.« Sie zuckte ein wenig steif die Achseln. »Ich habe nicht unbedingt den Wunsch, sie zu sehen, denn bestimmt ist sie entsetzlich aufgewühlt. Sie hat ihrem Bruder Sheridan immer recht nahe
gestanden. Es wird nicht einfach sein. Falls Sie jetzt lieber gehen wollen, habe ich dafür volles Verständnis.« Damit gab sie Vespasia zwar die Möglichkeit zu gehen, doch ließ ihr Gesichtsausdruck keinen Zweifel daran, dass es für sie einfacher wäre, wenn Vespasia bliebe.
So hatte sie nicht nur keine Wahl, sie hätte davon abgesehen auch keine Gelegenheit gehabt, rechtzeitig zu gehen, denn schon kehrte der Butler zurück, vom Ehepaar Denoon gefolgt. Vespasia hatte Enid tatsächlich vergessen, doch als sie ihrer erneut ansichtig wurde, kam ihr die Erinnerung an etwas, woraus unter anderen Umständen eine Freundschaft hätte werden können.
Sie war hoch gewachsen wie ihr Bruder Sheridan, schlank, hatte aber breitere Schultern und hielt sich sehr aufrecht. Ihre Figur hatte dem Alter weniger Tribut gezollt als die ihrer Schwägerin; ihre Taille war nicht in die Breite gegangen, und ihre Hüften waren weniger ausladend. Ihr Haar war nicht mehr von so kräftigem Dunkelblond wie früher, aber ihr Gesicht mit den hohen Wangenknochen und der charaktervollen Nase hatte sich kaum verändert. So manche jüngere Frau mochte sie um den Schimmer ihrer Haut beneiden.
Denoon, der hinter ihr stand, war dunkler und fülliger, aber sein Haar war immer noch dicht und fast schwarz. Mit seinem Charakterkopf wirkte er eher eindrucksvoll als gut aussehend. Vespasias einzige Erinnerung an ihn war, dass sie ihn noch nie hatte leiden können, vielleicht wegen seines Mangels an Humor, den seine hohe Intelligenz nicht wettzumachen vermochte. Er lachte so gut wie nie und hatte nicht den geringsten Sinn für absurde Situationen. Ihrer
Weitere Kostenlose Bücher